Zwei Angeklagte, die wegen versuchten Totschlags in Haft saßen, mussten freigelassen werden. Dies hat hat Oberlandesgericht Stuttgart angeordnet. Der Grund: die Verfahren am Landgericht dauerten zu lang.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Massive personelle Engpässe am Landgericht Stuttgart haben dazu geführt, dass zwei mutmaßliche Straftäter vor ihrem Prozess freigelassen werden mussten. Dies hat das Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart wegen überlanger Verfahrensdauer angeordnet. Die beiden Männer waren seit April wegen versuchten Totschlags inhaftiert. Trotz hoher Fluchtgefahr zumindest im Fall eines syrischen Asylbewerbers und des Risikos weiterer Straftaten sah das OLG keine andere Möglichkeit. Die Haft dürfe nicht länger als sechs Monate dauern, wenn die Gründe für Verzögerungen beim Gericht lägen.

 

Zugleich übte das Oberlandesgericht deutliche Kritik an der Organisation des Landgerichts und der Personalausstattung der Justiz insgesamt. Für das Gericht sei die Überlastung der betroffenen Strafkammer seit Monaten absehbar und damit vermeidbar gewesen. Der Vorsitzende habe nicht nur eine entsprechende Anzeige erstattet und seit Monaten mehrere Prozesse parallel geführt. Auch das OLG habe in vorausgehenden Haftprüfungsverfahren mehrfach gewarnt, dass sich die Kammer bereits „in einem Grenzbereich“ bewege.

OLG warnt vor neuen Straftaten

Präsidium und Verwaltung des Gerichts hätten darauf aber nicht ausreichend reagiert. Die Kammer sei zwar etwas verstärkt worden, nach der Erkrankung eines Richters aber zunächst noch schlechter besetzt gewesen als zuvor. Präsident des größten Landgerichts in Baden-Württemberg ist seit einigen Monaten der frühere Personalchef von Justizminister Guido Wolf (CDU), Andreas Singer.

Laut dem OLG darf die dauerhafte Überlastung eines Gerichts nicht dazu führen, dass Beschuldigte länger in Haft bleiben. Wenn der Staat nicht genug für eine ausreichende Personalausstattung unternehme, müsse er die Freilassung hinnehmen. Zudem müsse er den Bürgern erklären, „dass mutmaßliche Straftäter auf freien Fuß kommen, sich der Strafverfolgung und Aburteilung entziehen oder erneut Straftaten von erheblichem Gewicht begehen“, argumentieren die Richter.

Fast dreißig Fälle seit 2012

In Baden-Württemberg sind laut Justizministerium von 2012 bis 2017 insgesamt 25 Tatverdächtige wegen verzögerter Verfahren aus der Haft entlassen worden. In diesem Jahr wurden bisher vier Haftbefehle wegen Fristüberschreitungen aufgehoben. Ein Sprecher von Minister Wolf betonte, das Landgericht Stuttgart sei „personell sehr gut ausgestattet“; die aktuellen Fälle seien daher nicht auf Personalmangel zurückzuführen. Es sei Sache der Spitze des Landgerichts, wie sie die Richter einsetze. Ein Sprecher des Landgerichts verwies auf die „außerordentliche Belastungssituation“ durch eine Ballung von großen Straf- und Zivilverfahren. Man habe das Ministerium über den Engpass informiert und daraufhin eine zusätzliche Stelle erhalten; inzwischen sei zudem eine weitere Schwurgerichtskammer geschaffen worden.