Im Wahlkampfendspurt ist doch noch ein brisantes Thema aufgetaucht: der Pflegenotstand. Erst muss sich Kanzlerin Merkel harsche Kritik von einem Azubi anhören – dann legt Herausforderer Schulz nach und verspricht einen Neuanfang in der Pflege.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Kurz vor Toreschluss ist die Pflege noch ein Wahlkampfhit geworden. Dabei geht es gleichermaßen um die Misere in Altenheimen und Krankenhäusern. Bei allen Unterschieden hoffen die Befürworter einer Besserstellung auf den gesellschaftlichen Wandel, wonach die Pflege mehr Ansehen erhalten und als Berufsbild attraktiver werden soll. Von den zusätzlichen Milliarden der Regierung kommt beim Personal relativ wenig an. Um an neue Kräfte zu kommen, ködern einzelne private Anbieter sogar schon mit einem Dienstwagen. Die Parteien versprechen viel in ihren Wahlprogrammen, doch konkrete Ideen sind rar. Ein Überblick. Woher kommt das aktuelle Interesse? Zwei Auftritte in der ARD-„Wahlarena“ haben die Pflege in den Fokus gerückt: Am 11. September hatte der Hildesheimer Krankenpflege-Azubi Alexander Jorde (21) der CDU-Kanzlerin auf den Zahn gefühlt – am vorigen Montag legte ihr SPD-Herausforderer nach. Jorde hatte Angela Merkel ohne Scheu aufgefordert, mehr Geld in die Pflege zu stecken. Die Würde des Menschen werde „tagtäglich tausendfach verletzt“, weil zu wenig Personal da sei. Merkel hätte in zwölf Jahren nicht viel dagegen getan, rügte er.

 

Die Kanzlerin verwies auf den angehobenen Pflegeversicherungsbeitrag, der für fast 20 Prozent mehr Geld im Pflegebereich gesorgt hätte. Derzeit würden die Verbände der Leistungserbringer mit den Kassen eine „Neugewichtung“ von Pflegekräften pro Bewohner in den Heimen aushandeln.

Die Selbstverwaltung von Krankenhäusern und Krankenkassen wurde vom Gesetzgeber verpflichtet, bis 30. Juni 2018 die Untergrenzen für Pflegepersonal in patientensensiblen Klinikbereichen (Intensivstationen oder Nachtdienste) festzulegen. Sollte dies nicht gelingen, will die Regierung bis Ende 2018 die Mindeststandards festlegen, was Merkel in der „Wahlarena“ bekräftigte. Was strebt Martin Schulz an? Die Geschäftsführerin eines Lübecker Pflegeservice, Dagmar Heidenreich, bohrte bei Martin Schulz nach: Wie solle sie künftig all die offenen Stellen besetzen? Die Pflegekassen haben einen Milliardenüberschuss – aber die Arbeitgeber sind aus ihrer Sicht die Leidtragenden. Der SPD-Kandidat versprach einen „Neustart in der Pflegestruktur“ in den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit. „Dazu gehören drei Dinge: mehr Personal, bessere Bezahlung des Personals und Pflegeplätze.“ Die Gehälter müssten um mindestens 30 Prozent angehoben werden. Vielen Beschäftigten ginge es gar nicht so sehr ums Geld, sondern um mehr Personal und einen einheitlichen Pflegeschlüssel. Schulz: „Wir werden sicher Kräfte aus osteuropäischen Ländern rekrutieren müssen.“ Wie groß ist die momentane Personalnot? Nach Ansicht des Deutschen Pflegerats fehlen in den Krankenhäusern etwa 100 000 Pflegekräfte. Der Gewerkschaft Verdi zufolge müsste es dort für eine sichere Versorgung 162 000 zusätzliche Stellen geben, davon 70 000 Pflegefachkräfte. Einem Gutachten zufolge haben 53 Prozent der Kliniken Probleme, Stellen im Intensivbereich zu besetzen. Laut einer Pflege-Vergleichsstudie kommen in den Niederlanden durchschnittlich 7,0 Patienten auf eine Pflegefachkraft, in Schweden 7,7 und in der Schweiz 7,9 – in Deutschland aber 13 Patienten. Experten zufolge reichen neue Personalschlüssel aber nicht aus – die Arbeitgeber bräuchten mehr Geld, um die Arbeitsplätze zu besetzen. Wie reagieren die Gewerkschaften? Mindestens 1000 Pflegekräfte machten an diesem Dienstag Druck mit Streiks in diversen Ländern – speziell in Kliniken von privaten und öffentlichen Trägern, die den von Verdi geforderten bundesweiten „Tarifvertrag Entlastung“ ablehnen. Im Südwesten haben Beschäftigte in 15 Kliniken ihre gesetzlich vorgeschriebenen Pausen korrekt eingehalten – auch als Zeichen des Protestes gegen den Notstand. Verdi will eine Mindestpersonalausstattung im Tarifvertrag sowie Regeln zum Belastungsausgleich durchsetzen, falls die Vorgaben ignoriert werden. Wie ist die Entlohnung? Speziell für Pflegehilfskräfte gilt: Zum 1. Januar 2018 steigt der Mindestlohn-Satz in allen Pflegebetrieben (ambulant wie stationär) von 10,20 auf 10,55 Euro (West) und von 9,50 auf 10,05 Euro (Ost) pro Stunde. Die Regierung will die Sätze bis 2020 schrittweise auf 11,35 und 10,85 Euro anheben. In Einrichtungen, die unter den Pflegemindestlohn fallen, arbeiten etwa 900 000 Beschäftigte – in Privathaushalten gilt der allgemeine Mindestlohn. Angestellte Pflegefachkräfte werden in der Regel höher entlohnt. Über die Höhe der Tarifentgelte verhandeln die Tarifvertragsparteien, also die Verbände der Pflegekassen und der Leistungsanbieter.