Eine gute Reportage kann die Welt zumindest fleckchenweise verändern. Sie kann auch Karrieren befördern. Pete Dexter erzählt in „Paperboy“ von Journalisten zwischen Wahrheit und Schlagzeile.

Stuttgart - Journalisten können kaltblütig, kaltschnäuzig oder kaltherzig sein. Aber leidenschaftslose Faktensuchmaschinen sind sie nicht. Sie erwärmen sich schon mal für eine Sache, und wenn aus ihr eine aufwühlende Geschichte werden könnte, auch mal für die eigenen Karrieremöglichkeiten, die so eine Story bietet.

 

Pete Dexters Krimi „Paperboy“ erzählt von einer heißen Story. Aber schon der Titel des Buches weist auf skeptische Distanz zum Geschehen, auch wenn da ein tief verstrickter Ich-Erzähler berichtet. Paperboys sind die Bengel, die in Hollywoodfilmen vom Rad aus mit Schwung Zeitungen auf Hausveranden werfen oder im Gewühl der Großstadt die Schlagzeile des Extrablatts hinausbrüllen. Wer zu einem Printreporter Paperboy sagt, ist nicht unbedingt von Ehrfurcht vorm real existierenden Nachrichtengewerbe durchdrungen.

Das hohe weiße Ross lockt

Der Ich-Erzähler Jack ist Journalist und hat 1969 mitgemischt, als sein Bruder Ward und dessen Kollege Yardley Acheman in Florida eine Geschichte aufzurollen begannen, bei der ein Pulitzer-Preis möglich schien. Der Autor Pete Dexter, Jahrgang 1943, kennt die Branche, die Typen, die Lockung, aufs hohe weiße Ross zu steigen und den Recken der Gerechtigkeit zu spielen. Er war selbst Journalist, bis er in Ausübung seines Berufes beinahe in den Rollstuhl geprügelt wurde. Wieder genesen, hat er sich aufs Verfassen von Romanen und Drehbüchern verlegt.

In „Paperboy“ sollen die Journalisten einen alten Mordfall aufrollen. Der gewalttätige, asoziale Typ, der für die Tat in der Todeszelle sitzt, entspricht jedermanns Täterprofil. Aber es gibt eine Frau, die dem Häftling Briefe schreibt und die nun Journalisten bedrängt, doch noch einmal genauer hinzuschauen. Hier büße ein Unschuldiger bald mit dem Leben.

In Morast und Dunkelheit

Die Grundkonstellation könnte von John Grisham stammen. Aber Dexter entwickelt den Stoff anders. Dies ist kein Lehrstück über die Maschinerie des Rechts und deren Fehlschaltungsmöglichkeiten. Dies ist ein Buch über das Tasten in tiefer Dunkelheit in zähem Morast zwischen Schrott und Unrat nach etwas, das die Wahrheit sein soll. Jene Wahrheit, von der man gar nicht weiß, wie sie sich denn als Erkennungszeichen anfühlen würde, sollte man sie kurz einmal zu fassen bekommen.

„Paperboy“ ist in den Neunzigern unter dem Titel „Schwarz auf Weiß“ als Krimitaschenbuch bei Goldmann erschienen und wie zwei weitere Dexter-Übersetzungen völlig unbeachtet geblieben. Nun wird es neu vorgelegt, im Zuge der, so hofft man, späten Doch-noch-Entdeckung dieses so hellsichtigen wie unprätentiösen Erzählers. Pete Dexters Romane „God’s Pocket“ (hier besprochen),„Paris Trout“, „Train“ und „Deadwood“ liegen bereits wieder auf Deutsch vor.

Den wollen Sie verpassen?

Für „Paris Trout“ hat Dexter 1988 den National Book Award erhalten, dessen Preisträgerliste ein Kompendium der in Deutschland vergessenen oder nie populär gewordenen US-Autoren darstellt: Flannery O’Connor, Eudora Welty, Nelson Algren, John Cheever, Tim O’Brien und Larry Heinemann etwa. Wer auch Pete Dexter nicht liest, verpasst keine Avantgarde, keine neue Beleuchtung aktueller Probleme, keine fremde Traditionen erschließende Stimme einer ethnischen Minderheit. Er verpasst allerdings einen verdammt guten Geschichtenerzähler, einen leidenschaftlichen Hobbyboxer, der Texte anlegt wie Runden im Ring: kein überflüssiges Gerudere, dafür federnde Beweglichkeit und eine Mischung aus Deckung und Offensive, Zurückhaltung und exakten Aussagen. Und wer will schon ernstlich riskieren, so was zu verpassen?

Pete Dexter: Paperboy.
Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Liebeskind Verlag, München. 319 Seiten, 19,80 Euro. Auch als E-Book, 14,99 Euro.