Peter Berthold: Biologe, Vogelkundler und Naturschützer Der Prophet vom Bodensee
„Wir gehen sehenden Auges in die Katastrophe.“ Der 86-jährige Ornithologe Peter Berthold hält den Homo sapiens für ein Auslaufmodell.
„Wir gehen sehenden Auges in die Katastrophe.“ Der 86-jährige Ornithologe Peter Berthold hält den Homo sapiens für ein Auslaufmodell.
Seine Welt ist überschaubar geworden. Peter Berthold, 86, sitzt beschwerlich im kleinen Arbeitszimmer. An dem voluminösen Stehpult kann er sich nicht mehr halten. Er sitzt an einem zierlichen Schreibtisch im schwarzen T-Shirt, über das der silberfarbene Vollbart fließt. Auch wenn ihn eine schmerzhafte Krankheit in den Stuhl zwingt, ist der Geist des Professors hellwach. Seine Gedanken fliegen dahin wie jene Tiere, mit denen er sich zeit seines Lebens beschäftigte: Vögel.
Mit 13 Jahren stieg er in die Vogelkunde ein. Als Jugendlicher meldete er sich, um Vögel zu beringen. Dabei werden die Tiere kurz gefangen und an einem Fuß mit einem Ring versehen. Dieser dient als Schlüssel für dauerhaftes Beobachten: Wo hält sich das gekennzeichnete Tier gerade auf? Wohin führt es der Vogelzug.? Und wann stirbt es? Wenn andere Jungs zum Fußball ausschwärmten, suchte Berthold Vogelnester auf oder verfolgte den Reiher mit dem Fernglas. Später machte der gebürtige Zittauer aus seiner Leidenschaft einen Beruf.
Er studierte Biologie, promovierte und rückte dann zum Leiter der Vogelwarte Radolfzell (mit Sitz in Möggingen) auf. Diese Position machte ihn bekannt. In unzähligen Exkursionen hat er Tierfreunde in den Nestbau der Mönchsgrasmücke und das Liebesleben der Meisen eingeführt. Die Tiere auf der Halbinsel Mettnau, am Mindelsee oder am dortigen Wasserschloss Möggingen waren vor seinem Fernglas nicht sicher. Er forschte, schrieb und wies stets auf die Zerbrechlichkeit der gefiederten Tiere hin.
Doch was hat er bewirkt? Das fragt sich der Professor heute, wenn er auf einem Stuhl in seinem Arbeitszimmer hockt und zum Fenster hinaushört. Er lebte immer auf einem der Dörfer im Bodenseeraum. Seit 20 Jahren ist es Billafingen und ein kleines Haus mit Holzplanken, das sich von den hell verputzten glatten Fassaden der Nachbarn unterscheidet. Er erinnert sich daran, wie lautstark es früher auf dem Dorf zuging. Kinder lärmten auf den Straßen, durch die offenen Stalltüren hörte man Kühe und Schweine, Dutzende Vögel pfiffen und schilpten in den Bäumen der Grundstücke. Und heute? Der 86-Jährige spricht von einem „stummen Frühling“, einer Jahreszeit des Erwachens also, in der immer weniger Vögel musizieren. Er verweist auf eine Statistik, die er an die Wand gepinnt hat. Darauf sieht man eine Kurve, die nach unten fällt und im Jahr 2027 etwa den Nullpunkt erreicht. Der Befund gilt Auerhahn und Auerhuhn, den stolzen inoffiziellen Wappentieren des Schwarzwalds. Derzeit sind noch 116 Exemplare dieser Vögel unterwegs.
In der Ecke steht ein solches. Der ausgestopfte Auerhahn wird vorgeholt, Berthold streicht über das dunkle, noch immer glänzende Gefieder. Er mag sonst keine ausgestopften Vögel und wollte sein Berufsleben auch nie in einer naturkundlichen Sammlung verbringen. Dort hätte er sich den ganzen Tag mit mumifizierten Flattermännern beschäftigen müssen. Schon deshalb hielt er der Vogelwarte Radolfzell die Treue. Er blieb auf seinem Posten, während Stare und Störche über ihn hinwegzogen und er im Fernglas manchen alten Bekannten erkannte, dem er einst schon ein Ringlein übergestreift hatte.
Der Auerhahn in seinem Kontor hat noch eine andere Bedeutung: „Er wurde in Rossiten gefangen und präpariert“, berichtet Berthold mit leuchtenden Augen. Rossiten bedeutet für Ornithologen so etwas wie ein mythischer Ort – der Ursprung der systematischen Erforschung der Flugtiere. In dem Dorf im ehemaligen Ostpreußen wurde eine erste, damals noch primitive Vogelwarte eingerichtet. Die Lage an der Kurischen Nehrung ist günstig, Schwärme von Zugtieren verdunkeln den Himmel. Ein Paradies für Zugvögel und die Menschen am Boden.
Nach dem verlorenen Weltkrieg wurde Rossiten eilig geräumt. Der Ort heißt heute Rybatschy und gehört zu Russland. Die Unterlagen wurden 1946 – soweit möglich – in den Süden Deutschlands gebracht. Da war es günstig, dass mit Baron Nikolaus von Bodman ein leidenschaftlicher Tierbeobachter in einem Wasserschloss bei Möggingen wohnte und die vertriebene Vogelleute aufnahm. So gelangte auch der ausgestopfte Auerhahn vom äußersten Nordosten des untergegangenen Reiches nach Südbaden. Ein stummer Zeitzeuge – wie aus einem nicht geschriebenen Roman von Siegfried Lenz.
In der Traditionslinie von Rossiten steht auch Peter Berthold. Die Methoden sind dieselben. Mit dem Fernglas beobachten, Nester suchen, Ringe anbringen. Seit einem Jahr kann er nicht mehr beringen, das schmerzt ihn. Er denkt an die vielen Tiere, die er mit dem Rundling markierte. Er hat sie gezählt und oft gepäppelt. Als Ornithologe ist er Feldforscher. Seine Zeit verbrachte Peter Berthold nicht am Bildschirm, sondern zwischen Halm und Gebüsch. Als junger Mann zeltete er noch, später diente ein Volkswagen Bulli als vergleichsweise komfortables Nachtlager.
Er weiß, dass er und seinesgleichen von manchem belächelt werden. Der Vogelfreund alten Schlages galt früher als weltfremd, als Konsumfeind. Berthold wischt solche Vorbehalte vom Tisch. Der Bestand des Auerhuhnes ist kein exotisches Studienobjekt, er ist existenziell. „Wenn die Vögel nicht mehr fliegen, haben auch wir Menschen ein schlechteres Leben“, sagt er. Die schwächelnden Populationen seien nicht nur ein Problem für Fink und Amsel, sie seien auch Gradmesser für die vitalen Chancen des Menschen. „Wir sind nicht-fliegende Vögel“, bemerkt Berthold. Seine blauen Augen mustern den Besucher, prüfen, ob die Botschaft angekommen ist. Hat sein Gegenüber auch verstanden, dass Ornithologen nicht nur bunte Federn sammeln, sondern die Zukunft ausloten? Dass eine Voliere eine Einrichtung mit prognostischem Potenzial sein kann?
Berthold kann auch anders. Auch wenn er wie ein Onkel mit Rauschebart wirkt, kann er ungemütlich werden. In seiner Zunft fiel er häufig durch unbequeme Kommentare auf. Die Max-Planck-Gesellschaft), unter deren großem Dach die Vogelwarte nistet, schreckte immer wieder auf, wenn Berthold zum praktischen Handeln aufforderte, das aus wissenschaftlicher Erkenntnis wachsen müsse. Vogelhäuschen statt Elfenbeinturm. Seinen Ruf als Enfant terrible hat er durchaus genossen. Seine Vorträge sind legendär, gewürzt mit Anekdoten. Schon als junger Dozent zwang er sich, frei zu sprechen. „Wer abliest, hat beim Zuhörer schon verloren.“ Das sitzt.
Was hat das Warnen vor der Zerstörung der natürlichen Habitate geholfen? Er sagt es drastisch: „Der Homo sapiens ist ein Auslaufmodell.“ Deshalb nennt er ihn auch ‚Homo horribilis‘, einen schrecklichen Menschen und einen, der Schrecken verbreitet. Von „sapiens“, also klug und wissend, könne da kaum die Rede sein. Wie wäre es sonst zu erklären, dass die Menschheit ihre eigenen Lebensgrundlagen zerstört?, fragt er. „Wir gehen sehenden Auges in die Katastrophe.“
Gottlob hängen in seinem Büro auch behagliche Botschaften. Ein Bildteppich zeigt die Arche Noah. Aufgeregt flattern auch Vögel verschiedener Arten herbei, um ein Plätzchen in dem rettenden Holzkasten zu finden, um den die Sintflut schäumt. Auch Noah und seine Familie sind schon an Bord, klar. Berthold streicht mit zwei Fingern durch seinen Prophetenbart, der sich wie ein Nest bauscht. Eine kleine Gruppe von Menschen werden überleben, sagt er. Eine kleine Gruppe von Menschen. Er sagt das in aller Ruhe, als Summa seiner Arbeit. Seine Prognose: „Indigene Völker, die zum Beispiel am Amazonas leben, haben gute Aussichten zum Überleben.“
Den Vögeln wird es dann besser gehen. Da sie eine Generationenfolge von nur einem Jahr haben, können sie sich zügig anpassen. „Die Selektion geht schneller als beim Menschen“, sagt der Naturwissenschaftler. Die Kurzlebigkeit einer Amsel zum Beispiel (zwei bis vier Jahre) erweist sich dann plötzlich als Vorteil gegenüber dem Menschen, der stolz auf sein steigendes Alter ist – und sich evolutionstechnisch als Säuger im Schneckentempo erweist.
Nur gut, dass auch die Prognosen von Fachleuten nicht immer ins Schwarze treffen. Berthold nennt ein Beispiel: Als der Nationalpark Schwarzwald eingerichtet wurde, waren die Ornithologen erst einmal skeptisch. In der Kernzone sollte nichts mehr verändert werden, so die Pläne des damaligen grünen Umweltministers Alexander Bonde von 2014. Für den Vogelschutz wäre das kontraproduktiv gewesen, da man die Tiere ja nicht mehr unterstützen oder lenken durfte. So wenigstens dachten Peter Berthold und Kollegen damals. „Man hätte sie hinausgeschützt“, schwante ihm damals. Doch erwiesen sich die Befürchtungen als vorschnell. Den Waldvögeln geht es seit der Errichtung des Reservats nicht schlechter als vor 20 Jahren, als es noch keinen Nationalpark gab.
Peter Berthold ist trotz allem nicht zum Pessimisten geworden. Dem Ruf der Ornithologie würde er jederzeit wieder folgen. Er würde erneut Amseln und Mönchsgrasmücken (seine Lieblinge) einfangen und ihnen behutsam einen Ring überstreifen,jeden Handgriff säuberlich auf Papier dokumentieren. Zum Abschied gibt er einen guten Rat mit auf den Weg: Vogelschutz kann jeder, meint er versonnen, dafür muss man sich nicht tagelang ins Gras ducken. „Füttern Sie Vögel“, empfiehlt er. Und zwar nicht nur im Winter, sondern das ganze Jahr über. „Das ist eine moralische Verpflichtung. Wir geben damit etwas zurück, was wir den Vögeln genommen haben.“