ZDF-Chefredakteur Peter Frey ist ein großer Verfechter Europas und macht sich für Qualitätsjournalismus stark.

Leonberg - Ein Plädoyer für Offenheit einerseits und für klare Grenzen andererseits ist der Gastbeitrag des ZDF-Chefredakteurs Peter Frey auf der Vertreterversammlung der Volksbank Leonberg-Strohgäu gewesen. Unter dem Motto „Vor entscheidenden Wahlen – Erwartungen an Europa“ spricht er sich für ein offenes, selbstbewusstes und sozial gerechtes Europa aus. Aber er fordert auch klare europäische Richtlinien, damit sich weltweit Daten hortende Konzerne nicht wie „digitale Gangster“ in der Online-Welt verhalten, wie es in einem Bericht des britischen Parlaments heißt.

 

Jüngst habe er sich auf einer Reise in die Ukraine überlegt: Wie wichtig ist es eigentlich, sich die Frage zu stellen, wo Europa liegt und ob es an der östlichen Grenze der Europäischen Union endet? Er war zuerst in Lemberg in der Westukraine und dann fast 800 Kilometer weiter im Osten, in Odessa, der Hafenstadt am Schwarzen Meer. Das Eigenartige sei gewesen, so Frey, dass während hierzulande nach der Zukunft Europas gefragt wird, die Ukraine eindeutig ihre Zukunft in Europa sieht.

„Ich weiß, was auf dem Spiel steht, wenn wir in zwei Wochen wählen – oder nicht wählen. Was übrigens nur die stärker macht, die Europa zerstören wollen“, sagt Frey. Es gebe eine starke Bedrohung durch den Populismus. „Aber wir sollten uns nicht auf die anderen fixieren. Vielleicht ist Europa noch mehr durch unsere Gleichgültigkeit bedroht, dadurch, dass wir es zu selbstverständlich nehmen“, meint Frey.

Kein Krieg ist nicht selbstverständlich

Es sei nicht selbstverständlich, dass Völker friedlich zusammen leben, ihre Interessen und Unterschiede ausgleichen und mit Vielfalt leben können. „Irgendwie scheinen wir vergessen zu haben, dass kein Krieg in Europa weniger selbstverständlich ist als Krieg“, mahnt der Journalist.

Die Europäische Gemeinschaft scheine in ihrer größten Krise seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Jahr 1957 zu stecken. Erfreulich sei dagegen ein steigendes Interesse an der Europawahl. „Die EU-Bürger verstehen, um was es geht“, ist Frey überzeugt. In den Krisen vergangener Jahre liege die Chance, dass 2019 mehr Menschen ihre Stimme abgeben werden. „Gerade der Erfolg von Autokraten und Populisten mobilisiert gleichzeitig diejenigen, die für vertiefte Zusammenarbeit und mehr Integration Europas sind“, meint er.

Doch warum haben sich so viele in den vergangenen Jahren von Europa abgewandt? „Europa war immer beides: ein Versprechen des Friedens, aber auch eine Zusage auf Wohlstand und Stabilität. Und ob Europa dies noch leistet, darüber scheinen sich viele Europäer nicht mehr sicher zu sein“, mutmaßt Frey. Vielleicht werde die Krise überzeichnet, angesichts der Erfolgsgeschichten, wie die Freizügigkeit für Menschen, Waren und Dienstleistungen. Und all dem übergeordnet: Aus einem Kontinent der Kriege wurde ein Kontinent des Friedens.

Europäische Integration produziert auch Verlierer

Doch dazu komme die Erkenntnis, dass die europäische Integration in den vergangenen Jahren neben den Gewinnern der offenen Gesellschaften eben auch Verlierer produziert hat. Von den dynamischen Märkten profitiere Deutschland zweifelsohne. Auf der anderen Seite stünden aber die, deren Unternehmen dem internationalen Wettbewerb nicht standhalten. Jugendliche, die nach einer guten Ausbildung keine Jobs finden, und Menschen, die angesichts einer größer gewordenen Welt nicht mehr wissen, wo der Platz ist, an dem sie und ihre Familie Sicherheit und Zukunft finden. Diesen Umstand hätten die Rechtspopulisten erkannt: Ihre Wahlprogramme eint, dass sie darin ihre Skepsis gegenüber der Globalisierung ausdrücken und den Freihandel ablehnen. „Es gibt Studien, die statistisch zeigen, dass der Aufstieg der Rechtspopulisten mit dem Freihandel mit Niedriglohnländern und der steigenden Ungleichheit in den Industrieländern zu tun hat“, erläutert der ZDF-Chefredakteur. In Deutschland habe die AfD- und Pegida-Welle damit angefangen, in Großbritannien fühlten sich Arbeitnehmer in mittelenglischen Industriegebieten von polnischen und baltischen Migranten bedrängt. Auch in Südeuropa gebe es immer mehr Menschen, die das Gefühl haben, der Konkurrenz des Weltmarktes nicht mehr standhalten zu können.

Ein entscheidender Punkt hierbei sei die Osterweiterung der Europäischen Union. „Was die einen als Festtag abgespeichert haben, weil die Erweiterung der EU um die osteuropäischen Staaten ihnen Freizügigkeit als Arbeitnehmer, Teilhabe am europäischen Wirtschaftswunder und damit Jobsicherheit beschert hat, hat für die anderen die Unsicherheit weiter verstärkt“, erklärt Frey. „War das zu schnell, zu viel? Leidet die EU jetzt darunter, dass wir in Europa sozusagen in unterschiedlichen Zeitzonen leben?“, fragt es sich. Ein weiteres Problem sei für viele Länder die Auswanderung der Eliten, der gut Ausgebildeten, Jungen, Weltoffenen.

Äußerst wichtig sei es, dass gemeinsame soziale Standards gefunden werden, damit die Gemeinschaft nicht noch weiter auseinander falle. Lösungen seien notwendig, auch weil die Populisten die Fragen rund um die Themen Freihandel und Freizügigkeit, Osterweiterung oder europaweite Standards für sich nutzen. „Sie spielen mit der Unsicherheit der EU-Bürger und stellen die etablierte Ordnung in Frage, diffamieren, wie sie gerne sagen, das System als ungerecht“, warnt Peter Frey.

Digitalisierung und Journalismus

„Wir brauchen Europa – auch in einem Gebiet, das für einen Journalisten besonders wichtig ist: die weitere Gestaltung der Digitalisierung“, sagt Frey.

Auf der einen Seite bedeute Digitalisierung Aufbruch, Fortschritt und Chancen für Mitsprache und Demokratisierung. „Aber wir zahlen auch einen hohen Preis dafür – in der wohl wertvollsten Währung des 21. Jahrhunderts: mit unseren Daten.“ Die Risiken und Gefahren seien kaum abzuschätzen.

Hier entstehe ein Datenschatz, der einmalig ist in der Geschichte der Menschheit. Auf die Fragen, wie diese persönlichen Daten genutzt werden und wer die Kontrolle darüber hat, gebe es bisher keine hinreichenden Antworten. Dabei nutzten neue Medienunternehmen ihre globale Monopolstellung. Gerade Medienmacher haben neue Möglichkeiten: Sie interagieren direkt mit Nutzern und erreichen eine große Reichweite für ihre Inhalte. Soziale Netzwerke seien wichtig, weil sie Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene nutzen.

Es gehe nicht um Stoppschilder und Verbote, aber darum, die Digitalisierung politisch zu gestalten. „Europa muss eine politische Rolle spielen und ein kritisches Auge darauf haben, was die großen Tech-Konzerne, aber auch Regierungen mit diesen gewaltigen Datenmengen anstellen. Europa muss diese Plattformen in Verantwortung nehmen“, fordert Frey. Die einzelnen Länder seien zu klein dafür, das könne nur gemeinsam erreicht werden. „Wir brauchen Europa für eine adäquate Antwort auf amerikanische Mega-Konzerne. Damit könnte Europa beweisen, dass es in der Gemeinschaft leisten kann, wofür die Nationalstaaten nicht mächtig genug sind“, sagt der Fachmann für neue Medien.

Den Konzernen zu glauben, dass sie als Anbieter neutral sind, sei blauäugig. „Algorithmen sind nicht neutral, sie legen nach bestimmten Kriterien Relevanz fest, sie formen die Welt, die die Nutzer sehen“, sagt Frey. „Und zuletzt auch das Bild, das wir EU-Bürger von unseren europäischen Nachbarn haben, ob im Newsfeed von Facebook oder bei den Suchergebnissen von Google.“ Damit hätten diese Plattformen eine publizistische Verantwortung, auch wenn sie das abstreiten. „Europa muss sie gemeinsam zwingen, das Offensichtliche einzugestehen“, fordert Frey.

Und schiebt nach: die digitale Welt dürfe kein rechtsfreier Raum sein. „Die zahlreichen neuen Informationsquellen sind voll von zweifelhaften Informationen, von Gewaltvideos, Hass und Häme, Hetze bis hin zu Antisemitismus – alles auf den Servern der smarten Milliardäre aus dem Silicon Valley.“ Vieles, was da publiziert werde, erfülle den Straftat-Bestand der Volksverhetzung. „Dafür brauchen wir eine Art von Aufsicht, ähnlich wie bei Rundfunk und Fernsehen. Wer lügt, hetzt oder mit Gewalt droht, der muss zur Verantwortung gezogen werden. Nicht nur der unmittelbare Autor, sondern auch derjenige, der solche Inhalte im Netz publiziert“, sagt Frey. Das Netz zu ordnen, Verkehrsregeln zu etablieren, die auch in anderen Teilen der Öffentlichkeit gelten, sei eine der wichtigsten politischen Aufgaben dieser Jahre.

Frey geht auch auf die Rolle der Journalisten in den klassischen Medien ein. Fernsehen, Radio und Zeitungen würden zum Glück eine hohe Glaubwürdigkeit genießen, freut sich der Fernsehmann. „Als Journalisten müssen wir selbstkritisch und demütig sein, aber wir dürfen uns nicht den Schneid abkaufen lassen.“ Sein Credo für den Beruf: „Einer muss doch die Wahrheit sagen.“

Zum Ende seiner Ausführungen kommt der ZDF-Chefredakteur wieder auf seine Ukraine-Reise zurück, die ihm gezeigt hat: „Europa hat einen gemeinsamen Klang, einen gemeinsamen Geschmack, gemeinsame Wurzeln. Sie schließen ein und halten aus, dass andere anders sind.“ Es gehe darum, dieses Europa zu erhalten, es immer weiter zu denken und zu gegebener Zeit auch politisch zu erweitern.

Den Zuhörern gibt Peter Frey mit auf den Weg: „Verstehen wir Europa nie exklusiv, nie ausschließend, sondern immer inklusiv, einschließend. Machen wir Angebote und grenzen wir nicht aus. Und lassen wir es nicht zu, wenn andere Grenzen ziehen wollen, wo wir offen bleiben müssen.“