In „Gamma-Gärten“ beschoss man in den Fünfzigerjahren Nutzpflanzen experimentell mit radioaktiver Strahlung. Mancherorts tut man das noch heute.  

Stuttgart - Hier geht es in Zukunft um die Zukunft. Das StZ-Hausorakel Peter Glaser befragt einmal die Woche die Kristallkugel nach dem, was morgen oder übermorgen sein wird – und manchmal auch nach der Zukunft von gestern. Dazu als Bonus: der Tweet der Woche!

 

„Die Kohlevorkommen der Erde werden in absehbarer Zeit erschöpft, die Erdölquellen versiegt sein. Die Menschen im Jahre 2000 müßten also den Gürtel beträchtlich enger schnallen, wenn sie dann noch auf die alten Energiequellen angewiesen wären. Europa ist schon heute gezwungen, ein Fünftel seines Kraftbedarfs von außerhalb einzuführen. … Mit der Atomphysik ist also dem Menschen ein Mittel in die Hand gegeben, mit dem er – bei richtigem Gebrauch – sein Dasein in ungeahnter Weise verbessern und verschönen kann.“

Dr. med. Siegmund Schmidt, "Bedrohen Atome unsere Gesundheit?" (1957)

Im März 1959 versammelte sich eine ungewöhnliche Gruppe aus Wissenschaftlern, Regierungsbeamten und Normalmenschen zu einer Dinnerparty in der Mensa der Royal Commonwealth Society in London.

Einer der Gänge des Essens bestand, von den Gästen unbemerkt, aus einer interessant veränderten Sorte amerikanischer Erdnüsse: „NC 4x” – North Carolina, 4. Generation röntgenbestrahlt. Die Erdnüsse waren aus Samen aufgezogen, die mit 18.500 Einheiten Röntgen beschossen worden waren, um Mutationen auszulösen. Die bestrahlten Erdnüsse waren ungewöhnlich groß – so groß wie die britischen Mandeln, die daneben serviert wurden. Sie hatten die Tafel dank der Großzügigkeit ihres Erfinders, Walter C. Gregory vom North Carolina State College, erreicht. Gregory hatte sie als Geschenk an Mrs. Muriel Howorth aus Eastbourne geschickt, die sich für alles begeisterte, was atomar war.

Enttäuscht über die Reaktion ihrer Gäste, die sich der großen wissenschaftlichen Leistung bei Tisch nicht angemessen zugewandt hatten, inspizierte Mrs. Howorth, nachdem die Mahlzeit vorbei war, die vielen ungenutzten Erdnüsse und fragte sich, was man mit ihnen machen könnte: „Ich hatte den Einfall, eine bestrahlte Nuß in den Boden zu stecken und zu sehen, wie diese Mutante wuchs”. Die „Muriel Howorth”-Erdnuss (die sie nach sich selbst benannte) keimte innerhalb von vier Tagen und war bald zwei Meter hoch. Mrs. Howorth rief die Zeitungen an.

Kurz danach gründete sie die Atomic Gardening Society (mit ihr selbst als Präsidentin) und veröffentlichte eine Anleitung für das Atomic Gardening, um „die Interessen von Menschen zu koordinieren, die mit Atom-Mutationen experimentieren und Wissenschaftlern zuarbeiten, damit sie mehr und schneller Lebensmittel produzieren können und den Fortschritt bei Mutationen im Garten fördern.“

Dieser Enthusiasmus gehörte mit zu den Versuchen, die gewaltigen Energien im Inneren des Atoms auch auf friedliche Weise zu nutzen – in der Medizin, in der Biologie, in der Landwirtschaft. In Laboratorien in den USA, in Europa und in der UdSSR wurden sogenannte Gamma-Gärten angelegt, in denen Pflanzen radioaktiver Strahlung ausgesetzt wurden. Man hoffte, größere Erdnüsse oder resistenten Weizen herstellen zu können.

Pfefferminze etwa ist für eine Pilzkrankheit namens Verticillium-Welke anfällig. Durch rastloses Bestrahlen, Vermehren und Wiederauspflanzen erhielt man die pilzresistente Sorte Todd’s Mitcham, die heute in fast jedem Kaugummi für Frische sorgt (und wir wissen nicht, ob klassisches Ausmendeln nicht ebenfalls zum Erfolg geführt hätte).

Ein anderes Beispiel ist die Grapefruitsorte Rio Star. Sie bekam auf radioaktivem Weg roteres Fruchtfleisch und stellt heute drei Viertel der Grapefruitproduktion von Texas.

Die Forschung war nie wirklich geheim, aber sie geriet in Vergessenheit. Manche dieser Einrichtungen sind nach wie vor in Betrieb, etwa das Institute of Radiation Breeding im japanischen Hitachi-Ōmiya etwa 100 Kilometer südlich von Fukushima. Eine starke Kobalt-60-Strahlenquelle ist dort von einem kreisförmigen, über einen Kilometer durchmessenden Gamma-Feld umgeben - dem größten der Welt.

Und hier noch wie immer der Tweet der Woche: