Für viele ist die Zukunft des Buchs ohne jeden Zweifel digital. Aber auch ein Blick auf die Weiterentwicklung des Papierbuchs lohnt sich. Peter Glaser schreibt, was es bei diesem Medium alles noch nicht gibt. Darüber sollte man nachdenken, bevor man über E-Books spricht!

 

Stuttgart - Hier geht es in Zukunft um die Zukunft. Das StZ-Hausorakel Peter Glaser befragt einmal die Woche die Kristallkugel nach dem, was morgen oder übermorgen sein wird – und manchmal auch nach der Zukunft von gestern. Dazu als Bonus: der Tweet der Woche!

 

Manche haben bereits wieder das Ende der E-Books vor Augen. So weit würde ich nicht gehen, im Gegenteil glaube ich, dass E-Books und analoge Bücher noch sehr lange nebeneinander bestehen werden. Einer der Gründe: Das Papierbuch ist noch gar nicht fertigentwickelt. 

Das Buch, so möchte man meinen, ist eine mit den Jahrhunderten zur Vollkommenheit herangereifte Kulturtechnik. Keine andere Textbewahrungstechnologie kommt an Ökonomie, Leichtigkeit und Handhabbarkeit an ein Buchs heran. Ein Buch stürzt nicht ab. Es verursacht keinen Versicherungsvorgang, wenn es zu Boden fällt. Die Buchseite, auch wenn sie bekleckert, eingerissen oder zerknittert ist, bleibt lesbar, und so weiter.

Sonderbar erscheint die Begeisterung vor den neuen digitalen Aufschreibetechniken, wenn man versucht sich vorzustellen, wie es Gutenberg ergangen wäre, hätte er seinen Zeitgenossen verkündet: Hier habe ich eine neue Technologie für euch, sie heißt Buch. Um sie zu benutzen, braucht man aber eine Umblättermaschine, Computer genannt.

So sonnt man sich in der Schönheit des auf Papier gedruckten Buchs - bis zu dem Moment, in dem es aufgeschlagen wird und man die Hand wegnimmt. Wie ein Pfauenrad steigen manchmal die Seiten wieder hoch. Die Seiten eines neuen Buchs so weit umzubiegen, bis man den Rücken weich brechen fühlt, ist nicht jedermanns Sache. Schon die nächste Seite würde dieselbe mikromartialische Überdehnung erfordern, das Lesen wäre überschattet von einem Akt unangemessener Materialstrapaze.

Wenn ein Buch die Seiten aufwirft zu einem weißen, durchlässigen Plissee: das ist die Verführung. Es möchte berührt werden. Sanft niedergedrückt. So legt man seine Hand also über den Mittelbruch, auf die Zartheit der Zeilen. Oder man legt, damit sie nicht zuklappt, ein Ding auf das Schwalben-V der Doppelseite. Ein Brotmesser. Eine Fernbedienung. Eine Banane, deren Schattenrand zugleich Zeilenlineal ist. Manchmal genügt es, eine Ecke der Buchseite zu belasten, die sich wonnig wehrt und wölbt. Briefbeschwerer sind hierfür ungeeignet, da sie bei dicken Büchern von der Ecke kullern; ein weiteres Buch dagegen lässt sich gut auf die Ecke des ersten legen. All das aber ist uneleganter Behelf, ebenso Lesezeichen-Spangen, Jumbo-Büroklammern oder Gummiringe, die bei manchem Leser kurzfristig die Seite niederzwingen.

An der Wahllosigkeit, mit der wir nach Gegenständen zur Buchseitenbezähmung greifen, wird deutlich: da fehlt noch etwas. Es gibt keine Kultur von Dingen, die Buchseiten profund geöffnet halten.

Was vor allem fehlt, ist ein Mechanismus, der noch das Buch fortnimmt, wenn man im Bett beim Lesen einschläft. Das Buch beiseite zu legen, die Brille abzunehmen und das Licht auszuschalten bedeutet, am Ende wieder hellwach zu sein. Das Buch an einem von der Decke herabreichenden Gummiband zu befestigen, das es hochzieht, wenn man es einschlummernd loslässt, führte zu einer unter der Decke flatternden Papierfledermaus. Das Blätterproblem ist noch ungelöst. Das Buch, und darin liegt doch auch eine freudige Unruhe, ist noch nicht am Endpunkt seiner Entwicklung angekommen.

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Und hier wie immer der Tweet der Woche: