Poeten und Programmierer verbindet eine bemerkenswerte Nähe. Auch große Softwareprojekte und uralte Epen ähneln sich auf bemerkenswerte Art und Weise.

Stuttgart - Hier geht es in Zukunft um die Zukunft. Das StZ-Hausorakel Peter Glaser befragt einmal die Woche die Kristallkugel nach dem, was morgen oder übermorgen sein wird – und manchmal auch nach der Zukunft von gestern. Dazu als Bonus: der Tweet der Woche!

 

Die meisten Programmierer, mit denen ich befreundet bin, haben sehr ähnliche Lebens- und Arbeitsgewohnheiten wie Dichter. „Hacker werden von einem intensiven Bedürfnis gedrängt, ihr Medium zu beherrschen, perfekt zu beherrschen“, schreibt die Soziologin Sherry Turkle. „In dieser Hinsicht gleichen sie dem Konzertpianisten oder dem Bildhauer, der von seinem Material besessen ist. Auch Hacker werden von ihrem Medium 'heimgesucht'. Sie liefern sich ihm aus und betrachten es als das Komplizierteste, das Plastischste, das am schwersten Faßbare, als größte Herausforderung ihres Lebens."

Bei Vergleichen zwischen literarischen Sprachen und Programmiersprachen - beides artifizielle Konstrukte - fiel mir auf, wie sehr sich große Softwareprojekte und uralte Epen ähneln, die über Generationen durch die Geschichte weitergereicht werden und sich kaum noch auf einen Autor zurückführen lassen. „Diese gigantischen Computersysteme“, schrieb Joseph Weizenbaum 1977 in seinem Grundlagenwerk „Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft“, „sind in der Regel von Programmiererteams zusammengestoppelt worden (man kann wohl kaum sagen: konstruiert), deren Arbeit sich oft über einen Zeitraum von mehreren Jahren erstreckt. Wenn das System dann endlich gebrauchsfertig ist, haben die meisten der ursprünglichen Programmierer gekündigt oder ihr Interesse anderen Projekten zugewandt, so dass, wenn diese gigantischen Systeme schließlich benutzt werden, ihr innerer Ablauf von einem einzelnen oder einem kleinen Team nicht mehr verstanden werden kann.“

Was Computer angeht, befinden wir uns in einer Vorzeit

Wie es sich für solche Mythen gehört, ist es auch bei großen Programmen nicht mehr ein Erzähler, der den Text erstellt, sondern es sind viele Autoren, die einander in der Arbeit am Text ergänzen. Auch die Anwender von Programmen arbeiten an der Formung des Textes mit, indem sie frühzeitig verbreitete Programmversionen durch an die Entwickler gerichtete Beschwerden, Hinweise und Vorschläge ausschmücken helfen.

Begriffe wie Hochtechnologie verstellen den Blick darauf, dass wir uns, was Computer angeht, in einer Vorzeit befinden – im Übergang von der Eisenzeit (ab ca. 1200 v. Chr.) in die Siliziumzeit (ab ca. 1964, mit der Herstellung der ersten mikroelektronischen Halbleiter-Schaltungen). Es ist auch kein Zufall, dass die Schrift in ihren Anfängen nicht dazu diente, Ideen religiöser oder anderer Art zu vermitteln, sondern um im Tempel Aufzeichnungen über Vorräte und die Verteilung von Wirtschaftsgütern zu führen. Älteste Sprachfiguren wiederholen sich in den zeitgenössischen Programmiersprachen: „Die Magie selbst bewahrte lange Zeit ein noch primitiveres Merkmal der Sprache, das aus dem Ritual stammte: Ein Großteil aller magischen Formeln besteht aus einer präzisen Aneinanderreihung sinnloser Silben, die bis zum Überfluß wiederholt werden“, so der Kulturphilosoph Lewis Mumford.

In den Programmiersprachen sind diese Wiederholungen verdichtet worden zu Schleifen-Befehlen. Sie sind die Refrains, die aus Algorithmen Heldenlieder machen oder uns jedenfalls die Nähe zu den uralten Formen des Langgedichts spüren lassen. Auch die mächtigen reservierten Worte der Codes decken sich mit Bedeutungspotenzialen der klassischen Lyrik, in der ein Begriff wie „Rose“ nicht einfach für eine rote Blume steht, sondern eine Mannigfaltigkeit von Interpretationsmöglichkeiten um sich hat. Eine Matrix. Einen digitalen Duft.

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Und hier noch wie immer der Tweet der Woche: