Zeit spielt eine entscheidende Rolle bei der Anpassung an neue Technologien. Doch mit welcher Geschwindigkeit sollen wir uns der Zukunft nähern?

Stuttgart - Hier geht es in Zukunft um die Zukunft. Das StZ-Hausorakel Peter Glaser befragt einmal die Woche die Kristallkugel nach dem, was morgen oder übermorgen sein wird – und manchmal auch nach der Zukunft von gestern. Dazu als Bonus: der Tweet der Woche!

 

Dass ausgerechnet eine Wirtschaftswissenschaftlerin das Geschwindigkeitsdogma der digitalen Wirtschaft in Frage stellt, ist bemerkenswert. Shoshana Zuboff, Professorin an der Harvad Business School, wies schon vor einiger Zeit darauf hin, welche Rolle die Geschwindigkeit bei der Ausübung moderner Macht spielt: „Die NSA entwickelte dieselben Tools und Fähigkeiten, die es Google erlaubten, massenhaft anfallende Daten zu durchsuchen und mit Warp-Geschwindigkeit zu analysieren“, hieß es da in einem Aufsatz über die „Google-Gefahr“. Und: „Google konnte deshalb so rasch zu einer Macht aufsteigen, weil es [einen weißen Fleck] sehr schnell kolonisierte, ohne dabei auf Widerstand zu stoßen. Google fragte nicht um Erlaubnis, suchte keinen Konsens, bat niemanden um seine Meinung und machte nicht einmal deutlich, nach welchen Regeln und Vorschriften man verfuhr.“

Es ist die zeitgemäße Version des „Get Big Fast“ aus der Zeit des Dotcom-Booms, die wiederum eine aktuelle Version des „Erst schießen, dann fragen“ aus der Zeit des Pony-Express war.

Bugs implantieren gegen die Langeweile

Zeit spielt eine entscheidende Rolle bei der Anpassung des Menschen an neue Technologien. Menschliche Lernkurven verlaufen nicht so schnell wie Marketingmenschen es gern möchten. Wenn man einen der täglich genutzten Softwarekomplexe gerade einigermaßen zu beherrschen gelernt hat, kommt ein Update, eine neue Version, und damit der Hersteller auch rechtfertigen kann, dass er Geld dafür nimmt, wird da und dort etwas ab- oder hinzumontiert und werden ein paar lustige neue Bugs implantiert, damit keine Langeweile aufkommt.

Niemand lässt sich gern panisch machen, er würde den Anschluß an die Zukunft verpassen, wenn er sich nicht augenblicklich die neueste Hardware oder Software besorge respektive sich dementsprechenden Medientrends anschließe.

In einem Essay über die Vorteile der Nachzügler geht Zuboff auf die „Rhetorik der beschleunigten Innovation“ ein. Deren Credo kommt unter der Fahne des Ökonomen Joseph Schumpeter zu der von ihm so genannten schöpferischen Zerstörung daher. Bei Schumpeter gibt es allerdings keine rohen Brüche - neusprachlich „Disruptionen“ -, sondern „Mutationen“ einer wirtschaftlichen Entwicklung, mit der auch - anders als bei Disruptoren wie dem Taxidienst Uber - neue Formen der Institutionalisierung sozialer Beziehungen einhergehen.

Vor allem sagt Schumpeter, dass jede echte Mutation Zeit und Geduld benötige. Es handle sich um einen Prozess, „in dem jedes Element beträchtlich Zeit braucht, um seine wahren Eigenschaften und seine endgültigen Wirkungen zu enthüllen. Wir müssen seine Leistung über eine längere Zeitspanne hin beurteilen, wie sie sich während Jahrzehnten oder Jahrhunderten entfaltet.“

Das jeweils neueste digitale Projekt soll sofort übernommen werden

Früher gaben das Prüfen und Testen einer Erfindung genügend Zeit nicht nur zur Überwindung der ihr anhaftenden Fehler, sondern auch, um die Gemeinschaft darauf vorzubereiten. Obwohl auch diese Barrieren nicht immer genügend sozialen Schutz boten, wie man an den himmelschreienden Übeln sehen konnte, die das Fabriksystem mit sich brachte. Heute stehen wir der umgekehrten Situation gegenüber: Das jeweils neueste digitale Projekt verlangt von der Gesellschaft um jeden Preis sofort übernommen zu werden. Jedes Zögern gilt als sträflich oder als kulturelle Rückständigkeit. Der Konformitätsdruck, den die Vertreter des Digitalismus ausüben, ist hoch.

Sind diejenigen, die sich für eine digitalen Evolution anstelle der Revolution entscheiden, ignorante Bremser? Wir sollten alle einladen in diese neue Welt, die vielen von uns so wichtig ist. Wenn wir wollen, dass alle Menschen etwas vom technologischen Fortschritt haben, dann brauchen wir eine modernisierte Form der Gastfreundschaft – und Brückentechnologien. Technologien, die nicht nur die Early Adopters und die technologisch Versierten ansprechen, sondern auch den Rest der Menschheit.

Wobei dieser Rest nicht wirklich ein Rest ist. Es sind etwa 90 Prozent der Bewohner dieses Planeten. Die meisten Entwickler auf der Welt stecken ihre Energie in Produkte und Dienstleistungen, die exklusiv den wohlhabendsten 10 Prozent der Weltbevölkerung zugute kommen, so der Entwicklungshilfe-Experte Paul Polak. Wir brauchen aber einen Fortschritt, der auch die übrigen 90 Prozent erreicht.

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Und hier noch wie immer der Tweet der Woche: