Immer mehr Menschen breiten im Schutz der digitalen Distanz ihre persönlichsten Gedanken in der neuen Weltöffentlichkeit des Web aus.  

Stuttgart - Das Online-Universum ist eine gigantische Maschine gegen den Tod. Alles wird festgehalten, nichts mehr vergeht. Die aufdämmernde digitale Dekade und die aus der Universalität des digitalen Mediums resultierenden gleichermaßen universellen Veränderungen verursachen Wellen der Angst. Aber heute fürchtet niemand sich mehr davor, beim Segeln über den Rand der Welt zu fallen. Dafür kennen wir andere Ängste: vor Viren, Verkehrsunfällen, vor dem Verschwinden der Welt hinter den Bildschirmen. Und eine grundlegend neue Angst, nämlich die sich aufsummierenden Ängste, die aus unserem eigenen Tun und Handeln (und Nichthandeln) hervorgehen. Fürchtete sich der Mensch früherer Zeiten vor Naturgewalten wie einer Sonnenfinsternis, so erschrecken wir Gegenwartsmenschen vor der Sinnesfinsternis unserer eigenen Natur.

 

Enfants terribles, schreckliche Kinder, nannte der französische Graphiker Paul Gavarni eine Bilderfolge, deren Titel sich die Realität angeeignet hat. Thriller, Dangerous - größter Wunsch hormongepeinigter Heranwachsender ist es, angsterregend zu sein, Cyberpunk, Maschinenmensch, rebellischer Anonymous. Die Folgen der Beängstigungen werden überall sichtbar. In Mexiko entwirft ein Designer seit einiger Zeit mit Erfolg kugelsichere Mode.

Hyperauthentizität ist gefragt

Als Kontrapunkt zu einer alles abmildernden Wohlstandsgesellschaft, stürzen Menschen sich an Gummiseile gebunden von Kränen oder lassen sich wie Bruchholz durch Wildbäche schwemmen. Man übt sich in der Dramatisierung des Alltags. Hyperauthentizität ist gefragt - ein überraschender Telefonanruf von Steve Jobs etwa, weil man sich irgendwo über sein iPhone beschwert hat. Sie bedient ein lang vernachlässigtes Bedürfnis nach Realismus in der Unterhaltung. Und mit Facebook setzt sich die Tradition des TV-Nichtereignisses Big Brother fort: Hunderttausende zieht es vor die Bildschirme, wenn echte Menschen sich echt langweilen.

Die Anbieter in den Kommunikationsmedien spielen nicht zu unrecht das Argument der Freiwilligkeit aus. Unmutsäußerungen haftet stets die banale Frage an, weshalb man nicht einfach ausloggt oder abschaltet, wenn's einem nicht gefällt. Der hartnäckigen Behauptung, dass Medienkonsum sittlichen Niedergang nach sich ziehe, steht die Unauffindbarkeit des von der Theorie geforderten Homo gaga entgegen. Künstler wussten zu allen Zeiten, dass in der Rohheit eine gewisse Kraft liegt. Durch das Netz kehrt sich nun um, was öffentlich ist und was privat. Immer mehr Menschen breiten im Schutz der digitalen Distanz ihre persönlichsten Gedanken und Gefühle in der neuen Weltöffentlichkeit des Web aus. Wie enttäuschend, wenn man vor Augen geführt bekommt, wie viele Menschen rund um den Globus Langweiler sind. Das Netz ist phantastisch. Aber es gibt kein Entkommen aus der Banalität des Globalen Doofs.

E-Mail an den Autor: p.glaser@stz.zgs.de

Bemerkenswertes aus der digitalen Welt