Wir leben in einer Zeit des Übergangs - heute verabschieden wir uns vom Werbeplakat. Leuchttafeln werden statt seiner zum Einsatz kommen.

Stuttgart - Das Plakat verschwindet. Bald wird es überall so sein wie am Times Square oder dem spektakulären Platz vor dem Bahnhof Shibuya in Tokio: häuserfronthohe Leuchttafeln, über die Filme fließen. Das Plakat wird nur noch als eine sentimentale Erinnerung wiederkehren, Moment lang, wenn ein kurzes Standbild im Fluss bewegter Bilder erscheint. In den Megametropolen von Science-Fiction-Filmen sind diese übergroßen Monitore seit langem Inbilder der Zukunft.

 

Nun beginnt das Plakat zu beschleunigen. In Glaskästen am Straßenrand werden Plakatmotive über Umlenkrollen im Wechsel an uns vorbeigeführt. Andere Systeme arbeiten nach dem Jalousieprinzip. In Bahnhofshallen und Stadien ist der nächste Schritt bereits vollzogen. Riesige Flachbildschirme ersetzen das Plakat. Die hypnotische Besänftigung des Fernsehens strahlt von hier, leicht wie Blütenstaub, in die Großräume der modernen Welt.

Verlieren wir etwas mit dem Plakat? Es verschwinden Riesenfotografien, die speziell gemacht wurden, um aus der Entfernung gesehen zu werden, nicht aus der Nähe. Je näher man einer Plakatwand kommt, desto grotesker wirken die Abbildungen. Die klassische Art, ein Plakat zu betrachten, war das Vorbeifahren.

Eine schöne Leere in unserer bilderbedrängten Gegenwart

Eine Plakatwandreihe ist ein stehender Film, an dem wir vorbeiziehen. Sich ganz nahe vor einem Plakat aufzuhalten, vor einer Plakatwand, in einem plakatbestückten Buswartehäuschen, verschaffte einem Einblicke in die Physik der Verführung und das Gewirr von Farbquanten - der Rasterpunkte des Vierfarbdrucks. Wir sahen Falten, Klebekanten, manchmal einen Meteorschweif von Vogelkot auf einem großen Bild mit dem schäbigen Charme einer Kulisse.

Auf den fließenden Bildern der großen Monitorwände gibt es keine Übermalungen mehr, kein Überplakatieren, keine verrutschten Teile. Das große elektronische Bild strömt gleichförmig, und es bleibt auf Distanz. In der filmischen Form reduziert sich der Wechsel zwischen zwei Szenen auf einen Schnitt, während der Übergang zu einem neuen Motiv beim Papierplakat ein eigener, bemerkenswerter Vorgang war. Ein Mann, eine Leiter, ein Eimer mit Leim und eine Tapetenbürste kamen zum Einsatz.

Erst einmal kam eine Lage weißes Papier über das alte Motiv, damit keine Kontur aus dem Untergrund in eine Fläche des neuen Plakatmotivs durchscheinen konnte. Diese bedächtige Transformation von der einen papierenen Bildfläche nach der anderen hin werden wir vermissen. Den kurzen Moment vor allem, in dem die ganze Plakatwand einfach weiß war und der Mann mit dem Leimkübel das nächste Blatt erst einmal vor seinen Körper hielt, wie ein Tuch oder ein Kleidungsstück, das man vor dem Spiegel anprobiert. Manchmal, wenn eine Plakatwand gerade nicht vermietet war, hielt sich das Weiß ein paar Tage lang und war eine schöne Leere in unserer bilderbedrängten Gegenwart.

E-Mail an den Autor: p.glaser@stz.zgs.de

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