Richard Ayres’ Familienoper „Peter Pan“ ist auf die Bühne der Staatsoper Stuttgart gekommen. In der fantastisch-fantasievollen Inszenierung von Frank Hilbrich bevölkern wilde Jungs, Piraten und ein Krokodil das Nimmerland.

Stuttgart - Alle Kinder, außer einem, werden groß“ – dieser eine heißt Peter Pan und ist die Figur des Schotten James Matthew Barrie. Der erste Satz seines 1911 erschienenen Buchs „Peter and Wendy“ ist psychologisches Programm. Die Geschichte vom „Jungen, der nicht groß werden wollte“ – zuerst populär geworden durch Barries Schauspielfassung sowie als Comic- (Disney) und Real-Film (Spielbergs „Hook“) – machte immerhin Karriere in der Wissenschaft. Ein modernes Exempel des Peter-Pan-Syndroms fand sich in Michael Jackson, der als trauriger Peter-Pan-Wiedergänger dessen Fluchtort realiter nachbauen ließ: Jacksons Ranch Neverland beschwor Barries gleichnamiges Eiland, auf dem die Lost Boys leben.

 

Ins Deutsche wird dieses Utopia mal als Niemands-, Niemals- oder Nimmerland übersetzt – es zeigt die fluktuierende und auch geheimnisvolle Bedeutungsvielfalt der Story an, die zur Fallstudie taugt. Sie ist nicht frei von Gefühllosigkeit und Grausamem, der Tod tritt auf, sie hat übernatürliche, auf den Surrealismus vorausweisende Motive, und die Hauptfigur ist nicht unbedingt durchgängig sympathisch.

Stuttgart gewährt der Familienoper die große Bühne

Stoff jedenfalls, der zur Oper taugt. Die Staatsoper Stuttgart hat sie in Koproduktion mit der Komischen Oper Berlin und der Welsh National Opera in Cardiff bei der Librettistin Lavinia Greenlaw und dem englischen Komponisten Richard Ayres in Auftrag gegeben – und liegt bestens im Trend. Acht Opern, die auf Kinder zugeschnitten sind, werden in dieser Spielzeit an deutschen Theatern uraufgeführt.

Stuttgart mit seiner Jungen Oper ist allerdings in seinem Bemühen ums Kinderpublikum seit Jahren vorbildlich, die Uraufführung jetzt ein stolzes Bekenntnis: die Familienoper hatte im Großen Haus Premiere. Das braucht es auch, denn mit Mitteln hat der 1965 geborene Komponist nicht gegeizt: Chor, Kinderchor und ein vielfarbig besetztes Orchester, in dem Kontrabassklarinette und Akkordeon zum Einsatz kommen, die Schlagzeuger Holz zersägen und Nägel einschlagen. Rhythmisch streng notiert, versteht sich.

Sägend geht es los vorm Haus der Darlings, als da wären der pedantische Vater und eine Mutter aller Mütter (zum Küssen: Helene Schneiderman), die vor allem eines will: Kinder. Gleich darauf hopsen sie in ihren Betten, hauen sich Teddy und Kissen um die Ohren, John, Wendy und Michael, zehn, acht und fünf Jahre alt, bewacht von der zotteligen Nana. Praktisch, so ein Hund als Kindermädchen. Wenn alle endlich schlafen und schnarchen, erscheint hinter dem riesigen Fenster ein Schatten, Peter Pan. Als Mutter Darling überraschend auftaucht, reißt ihm bei der Flucht der Schatten ab. Bald kehrt Peter zurück, und Wendy, das Mädchen mit den richtigen Fragen und dem klugen Blick für die Dinge des Herzens, findet ihn weinend. Der wiedergefundene Schatten will nicht kleben bleiben. Wendy näht ihn an und vielleicht als Dank – ein Peter Pan, der weder Gestern noch Morgen denken kann, der Berührung in keiner Hinsicht erträgt, kennt solchen sozialen Ausgleich kaum – dürfen sie und ihre Brüder mit in Richtung Nimmerland. Fliegend dem Luftikus Peter hinterher und manchen Abenteuern entgegen mit wilden Jungs, einem Krokodil, Piraten, der Indianerprinzessin Tiger Lily und dem einarmigen Captain Hook.

Viel Ursache, aber wenig Wirkung

Was für eine Vorlage. Man muss eine schlechte Phase erwischt haben, so eine Vorlage zu vergurken. Der englische Komponist Richard Ayres hat es geschafft. Seiner Partitur fehlt es zwar nicht an lautmalenden, süffigen, manchmal kitschigen Takten, er bedient sich bei der Kleinmotorik von Leos Janácek, im Vokalstil erinnert manches an Benjamin Britten, im Dröhnen des Blechs und im Pfeifen der Piccoloflöten  wurde bei Schostakowitsch Maß genommen. Aber Ayres betreibt einen oftmals lärmenden Instrumentalaufwand – unter vier- und fünffachem Forte macht er’s nicht –, dessen instrumentaltechnisch anspruchsvolle Ausführung (am Dirigentenpult Roland Kluttig) im umgekehrten Verhältnis zur kompositorischen Substanz steht. Beispielhaft das zweite Zwischenspiel „Lied der Sterne“, in dem die Violinen in der dritten und vierten Oktave kauderwelschend herumwuseln müssen.

Überhaupt steht das alles wenig im Dienste eines präzisen Theatersinns, der Vorstellung von einem dramaturgischen Bogen – genau das, was erzählendes Musiktheater schlicht benötigt.

Peter Pan, das ist Poesie, Spannung, Traum, Abenteuer. Hier stattdessen: viel Ursache, wenig Wirkung. Ayres gliedert besonders im zweiten Teil den Stoff nicht, setzt wenig Schwerpunkte; die Tiger-Lily-Episode wirkt lähmend überflüssig, der Höhepunkt, Captain Hooks Ende im Krokodilmaul, viel zu beiläufig. Und wenn mal durch eine Arien-Reflexion Ruhe in die am Text entlangschrammelnde Musik kommt, dann fehlt es dem Komponisten entschieden an melodischer Inspiration; etwa in Wendys Erinnerung ans elterliche Haus in der dritten Szene im zweiten Akt. Überhaupt die Gesangsstimmen: verständlich ist der Text selten. Entweder sind die Stimmlagen ungünstig gesetzt, oder das Orchester ist zu laut. Sinnerschwerend ist zudem bei der Übersetzung aus dem Englischen manchmal die Silbenverteilung nicht auf die sinnvoll richtigen Taktteile erfolgt.

Der Regisseur rettet, was die Musik vergeigt

Dabei steht bis auf den stimmlosen Bariton Espen Fegran als Vater Darling und (völlig ungefährlichen) Captain Hook ein feines Ensemble auf der Bühne, angeführt von der wunderbaren Yuko Kakuta mit glockiger Höhe als Wendy und ihren rothaarig-pummeligen Brüdern John (Daniel Kluge) und Michael (Josefin Feiler). Die Chöre, einstudiert von Christoph Heil, spielen präsent und singen kräftig, aus ihrer Mitte rekrutieren sich tolle Solisten (Shoung Ho Shin und Urs Winter).

Und dann ist da der punkige Peter Pan des Iestyn Morris, eine Idealbesetzung als androgyner Junge in Cargohose und Tigerweste aus dem Zwischenreich der Pubertät, für den etwas weniger die Unschuldsvermutung gilt als für das Barrie-Original im Blätterkostüm. Ayres hat die Rolle für einen Countertenor geschrieben, auch darin an Britten anknüpfend, der seinen verführerischen Oberon einem Counter übertrug. Mindestens so fabelhaft aber ist Morris’ akrobatische Leistung im Geschirr der Flugmaschinerie – ein dreifaches Bravo der Technik (Leitung: Ran Arthur Braun).

Fazit: die grandiose Inszenierung von Frank Hilbrich mit der prallbunten Bühne und den teilweise comichaft wattierten Kostümen von Duncan Hayler ist um vieles besser als das Stück, quetscht aus ihm das Optimum an Theatersaft und Krokodilblut für Kinder ab 8 Jahren. Hilbrich, der zuletzt in Freiburg mit seinen Wagner-Inszenierungen großen Erfolg hatte, soll bald wiederkommen. Nach dem Ende des Hausregisseurinnenmodell in Stuttgart ist ja wieder Platz auf den Regiegast-Positionen.