Haroutune Selimian ist armenisch evangelischer Pfarrer in Aleppo. Trotz des Bürgerkrieges ist er dort geblieben. Im Interview erzählt er von Tagen voller Krieg, schildert seine Ängste und erklärt, warum es auch während des Krieges gute Tage gegeben hat.

Stuttgart - Haroutune Selimian ist armenisch evangelischer Pfarrer. Und das im bürgerkriegsgebeutelten Aleppo. Trotz Bomben, Zerstörung und Angriffen auf Christen ist er geblieben, schrieb sogar seine Doktorarbeit unter Beschuss. Wie so viele andere, versucht er nach der Befreiung der Stadt zu einem normalen Leben zurückzukehren. Das Gustav-Adolf-Werk Württemberg unterstützt ihn dabei. Kraft geben ihm aber auch sein Glaube und die Hoffnung der Menschen.

 
Herr Selimian, wir alle kennen die Bilder aus Aleppo. Wie ist die Situation derzeit in ihrer Heimatstadt?
„Die Situation in Syrien ist etwas besser geworden, zumindest was die Stadt Aleppo betrifft. Es gibt immer noch sehr viele Kriegsgebiete in verschiedenen Teilen Syriens, wie Damaskus, Afrin oder Idlib. Viele, die damals geflohen sind, kommen wieder zurück. Aber es hat sich für sie viel verändert. Verwandte und Freunde sind nicht mehr da, ihre Häuser sind zerstört, ihre Geschäfte, Schulen und Plätze auf denen sie sich aufgehalten haben, gibt es nicht mehr.“
Was empfinden die Menschen, wenn sie wieder zurückkehren?
„Sie haben unterschiedliche Gefühle. Sie fragen sich: Können wir das wieder aufbauen? Können wir wieder normal in Syrien leben? Aber viele fassen sich ein Herz und sagen: „Ja, wir müssen unser Zuhause wieder aufbauen, weil es ein Teil unserer Geschichte ist und wir über die schlimme Zeit hinwegkommen müssen.“ Die meisten kommen zurück, weil sie wieder in Syrien, in ihrer Heimat, leben möchten. Und das ist gut, denn wir brauchen diese Hoffnung auf Leben, Hoffnung auf einen Neubeginn in dieser Region.“
Wie sehen Sie die Zukunft Syriens?
„Syrien spielt eine wichtige Rolle in der politischen Situation des Mittleren Ostens. Wenn Syrien sich nicht schnell stabilisiert, habe ich Sorge, dass der gesamte Mittlere Osten in Flammen steht. Das ist auch der Grund, warum ich sowohl zu Christen als auch zu Muslimen sage, dass wir als Syrer eine Art Stabilitätszone bauen müssen. Das erreichen wir durch gegenseitigen Respekt, Toleranz und unsere Güte. Wir müssen einen Weg finden, wie die verschiedenen Aspekte unserer Religionen zu einem gemeinsamen Zusammenleben beitragen können. Darin müssen wir investieren. Wir dürfen nicht nur finanziell investieren und Ruinen wieder aufbauen. Wir müssen auch unsere unsere Gemeinschaft wieder aufbauen.“
Was können Sie als Pfarrer mit ihrer Kirche dazu beitragen?
„Ich persönlich investiere in das Verbleibende, versuche die Kirche und ihre Einrichtungen in der Region aktiv zu halten. Während des Krieges haben wir eine Poliklinik eröffnet. Die meisten Ärzte haben das Land verlassen, die Krankenhäuser wurden bombardiert und so gab es für die Bevölkerung keine Anlaufstelle mehr, um Medikamente oder auch nur eine einfache Behandlung zu erhalten. Wir haben Ärzte angestellt und in den Räumen unserer Sonntagsschule Behandlungszimmer eingerichtet. Inmitten einer muslimischen Nachbarschaft kann man die medizinische Hilfe natürlich nicht nur Christen anbieten. Wir haben alle behandelt.“
Es sind also die grundlegenden Dinge, mit denen Sie ihr Land unterstützten?
„Ja. Wir kümmern uns um Essensspenden, um frisches Trinkwasser oder andere Dinge des täglichen Lebens. Die Inflation ist nach dem Krieg hoch. Viele Menschen leiden an Armut. Es leiden Armenier ebenso wie Araber, Christen wie Muslime. Durch die Hilfe für alle können wir das gegenseitige Vertrauen wieder gewinnen, dass wir durch den Krieg verloren haben. Ein Mensch ist ein Mensch. In Gottes Augen sind alle gleich. Und wenn wir diesen Grundgedanken der Theologie umsetzten, können wir auch an das Leben und an die Zukunft Syriens glauben.“

Der Alltag während des Bürgerkrieges hatte seine Höhen und Tiefen

Wie sah das tägliche Leben in Ihrer Gemeinde während des Bürgerkrieges aus?
„Während des Krieges hat sich das tägliche Leben unserer Gemeinde nicht drastisch verändert. Natürlich, wenn wir unter Beschuss standen, ist jeder weggerannt und hat Schutz gesucht. Aber wenn für fünf oder zehn Stunden Ruhe war, konnte man beobachten, wie die Leute leicht in das normale Leben zurückgekehrt sind. Die Menschen feierten ihre Geburtstage, Hochzeiten, trafen sich in Restaurants oder Cafés und gingen zum Gottesdienst. Wir wurden dafür auch kritisiert. Gemeinden aus dem Westen fragten mich, wie das sein könne, dass wir ein gutes Leben hätten. Es gibt Bilder von schönen Seiten und die Bilder der zerstörten Stadt. Beides ist wahr. Die Stadt ist zerstört, aber wir versuchen Sauberkeit, Ordnung, Disziplin, Lehre und Musik zu bewahren.“
Wie bewahrt man sich das schöne Leben, wenn um einen herum Krieg herrscht?
„Wir haben beispielsweise das armenische Musikgebäude auch während des Krieges offen gehalten. Drüben schlugen die Bomben ein und hier übte ein sechsjähriges Kind auf seiner Violine. Für viele scheint Musik Luxus zu sein. Für uns ist sie ein Teil unseres Alltags, den wir beibehalten müssen. Der Alltag hatte seinen Höhen und Tiefen. Aber wenn es gut war, haben wir immer versucht, einfach weiter zu machen wie zuvor. Das ist auch ein Grund, warum viele sogar während des Krieges gesagt haben, dass sie ihr Land lieben.“
Warum haben Sie nie darüber nachgedacht Aleppo zu verlassen?
„Es ist meine Heimat. Auch das Christentum ist dort beheimatet. Wir als Christen wollten nicht dahin gehen, wo es einfacher für uns ist. Wir wollten zusammenleben im Unterschied. Wir armenische Christen haben eine Geschichte. Unsere Kirche entstand 1846 in der heutigen Türkei. Im Ersten Weltkrieg wurden armenische Christen getötet und der Rest flüchtete in die Wüste Syriens. Hier haben wir Asyl bekommen und konnten uns ein Leben aufbauen, eine Gemeinschaft.“