Die Zahl schwieriger Demenzkranker wächst. Die Betreuer in den Pflegeeinrichtungen stoßen deshalb immer häufiger an ihre Grenzen. Fachleute fordern, das Thema endlich öffentlich zu diskutieren und damit zu enttabuisieren.

Stuttgart - Es ist ein tragischer Vorfall gewesen, wie er sich vermutlich auch in einem anderen Pflegeheim hätte ereignen können: Nach einem Streit zweier hochbetagter und an Demenz erkrankter Männer im geschlossenen Bereich des Seniorenzentrums Sommerrain in Bad Cannstatt stürzte einer der beiden, der 86-Jährige verletzte sich am Kopf und starb einen Tag später in einem Krankenhaus. Ob der Mann von seinem 83 Jahre alten Mitbewohner, dessen Zimmer er kurz zuvor betreten hatte, tatsächlich gestoßen wurde oder ob er gestolpert ist, lasse sich nicht sagen, erklärt die Leiterin der DRK-Einrichtung, Rada Strika. „Das haben wir nicht beobachtet.“ Nur so viel könne sie sagen: als eine Pflegekraft wegen der lautstarken Auseinandersetzung zu dem Zimmer lief, sei der 86-Jährige gerade rückwärts aus diesem herausgekommen und gefallen.

 

Mag der genaue Hergang des Geschehens auch ungeklärt bleiben, es wirft doch ein grelles Licht auf die Lage in den mehr als 40 Stuttgarter Pflegeheimen. Streitigkeiten und Rangeleien unter Demenzkranken kommen dort immer wieder vor aufgrund der Desorientierung, die nicht selten mit impulsivem und aggressivem Verhalten verbunden ist, und aufgrund anderer psychiatrischer Problemlagen.

Verhaltensauffälligkeiten bei an Demenz Erkrankten

„Die allermeisten Demenzkranken zeigen in irgendeiner Form Verhaltensauffälligkeiten“, sagt Ulrich Seidl. Dies seien häufig Apathie und depressive Verstimmungen, aber auch Erregungszustände und Wahnvorstellungen, sagt der Leitende Oberarzt für spezielle Psychiatrie und Sozialpsychiatrie am Zentrum für seelische Gesundheit in Bad Cannstatt. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Psychopathologie bei Alzheimer-Demenz, die etwa zwei Drittel aller Demenzfälle ausmacht. Durch ihr Leiden wähnen sich viele Heimbewohner ohnehin in der Fremde, wer in das Zimmer eines anderen tritt, wird da schnell einmal als Eindringling wahrgenommen.

Wegen der demografischen Entwicklung wächst mit der Zahl der Demenzfälle auch die solcher aggressiver Auffälligkeiten. „Die Heime sind oft überlastet“, hat Ulrich Seidl bei seinen Untersuchungen festgestellt. Zum einen seien die Stellenschlüssel zur Betreuung von Demenzkranken nach wie vor „zu gering“. Überdies sei es für die Heime oft schwierig, für die Betreuung von Demenzkranken, die viel Sensibilität und Sachkunde erfordert, ausreichend gut ausgebildetes Fachpersonal zu finden.

9500 Menschen in Stuttgart sind von der Krankheit betroffen

Was die geschilderte Lage für die Pflegeheime in Stuttgart bedeutet, lässt sich anhand von einigen Zahlen zeigen. Günther Schwarz, der zuständige Fachberater Demenz bei der Evangelischen Gesellschaft (Eva), geht für Stuttgart von etwa 9500 betroffenen Menschen mit Demenz aus. „Von diesen leben zwischen 30 und 40 Prozent in Pflegeheimen“, sagt Schwarz. Man kann also von gut 3000 Fällen ausgehen. Das hat zur Folge, dass die Heime zu 60 bis 80 Prozent mit Demenzkranken belegt sind.

Ein Beispiel dafür ist das Seniorenzentrum Sommerrain des DRK. „80 Prozent unserer Heimbewohner haben eine Demenzerkrankung“, sagt Leiterin Rada Strika. Im offenen Bereich der noch neuen Einrichtung leben 78 alte Menschen, die geschlossene Abteilung für auffällige Demenzkranke hat 24 Plätze, von denen bis jetzt 16 belegt seien, erklärt Strika. Und die Leiterin weist darauf hin, dass man dort den Stellenschlüssel mit ausreichend Fachkräften erfülle.

Experten fordern die Enttabuisierung des Themas

Die Betreuung in den Heimen wird allerdings nicht einfacher. Durch den Ausbau des ambulanten Pflegebereichs etwa mit Tagespflegeplätzen und zusätzlichen Angeboten zur Entlastung von Angehörigen „kommen die Menschen erst dann ins Heim, wenn es gar nicht mehr anders geht“, sagt Kurt Greschner, der zuständige Bereichsleiter bei der Caritas. Dadurch steigt das Alter der Bewohner, mit dem die Wahrscheinlichkeit einer Demenzerkrankung auch deutlich wächst, die dann gegebenenfalls auch schon weit fortgeschritten ist. Dazu kommt, dass heute selbst ältere Demenzkranke „körperlich viel gesünder und fitter sind als früher“, sagt Fachberater Günther Schwarz. „Deshalb sind sie auch viel beweglicher und aktiver, das Potenzial an Konflikten ist entsprechend erhöht.“

Aufgrund dieser Entwicklung werde die Lage in den Heimen zunehmend angespannter, da sind sich alle Befragten einig. „Wir sind an der Kante“, sagt Kurt Greschner. Und Günther Schwarz warnt: „Das Personal in den Heimen wird den wachsenden Anforderungen zunehmend weniger gerecht.“ Oberarzt Ulrich Seidl ist der Auffassung, dass über diese Verhältnisse endlich stärker in der Öffentlichkeit gesprochen werden müsse: „Das Thema wird immer noch zu sehr tabuisiert.“

Am häufigsten treten Depressionen bei Demenz auf

Untersuchung
In einer wissenschaftlichen Studie hat der Psychiater Ulrich Seidl sich mit der Alzheimer-Demenz befasst, die heute etwa zwei Drittel der Demenzerkrankungen ausmacht. Dabei hat sich einmal mehr gezeigt, dass „eine demenzielle Erkrankungen die wichtigste Ursache für die Inanspruchnahme von stationärer Pflege ist“.

Auffälligkeiten
Untersucht wurde die Häufigkeit von psychopathologischen Symptomen, wie sie bei Alzheimer auftreten. Insgesamt zeigten 87 Prozent der einbezogenen Heimbewohner solche Symptome. Am häufigsten traten Depression auf (52 Prozent), gefolgt von Apathie (41 Prozent). Von Erregungszuständen betroffen waren 38 Prozent der untersuchten Menschen, von Angstzuständen 32 Prozent, gefolgt von Unruhe (34 Prozent), Reizbarkeit (31 Prozent), Wahnvorstellungen (22 Prozent) und Halluzinationen (13 Prozent).

Statistik
Eine andere Studie zur Wahrscheinlichkeit, vom 65. Lebensjahr an eine Demenz zu entwickeln, ergab für Frauen einen Wert von 34,4 Prozent, für Männer wegen ihrer geringeren Lebenserwartung von 16 Prozent. In der Regel tritt Demenz vom 60. Lebensjahr an auf. Die Rate der Betroffenen verdoppelt sich alle fünf Altersjahre. Zwischen 60 und 65 beträgt sie etwa ein Prozent und steigt im hohen Alter auf weit mehr als zehn Prozent an.