Sechs Pflegekräfte aus der Region Stuttgart berichten im Interview schonungslos von ihrem Alltag im Krankenhaus. Die Zustände sind oft unhaltbar.

Stuttgart - In den Kliniken herrscht Pflegenotstand. Wir haben mit sechs Pflegekräften gesprochen. Anke (54), Marianne (54), Schirin (26), Edelgard (59), Hanni (55) und Jürgen (59) arbeiten in Kliniken in der Region Stuttgart und schildern ihren Alltag. Da sie ihre richtigen Namen nicht nennen möchten, haben wir sie geändert.

 
Sie sind allesamt – mit Ausnahme von Schirin – schon viele Jahre im Beruf. Wie hat sich Ihr Berufsalltag verändert?
Anke: Ich habe 1989 angefangen. Wenn wir früher Pflegebereiche mit zehn Patienten gehabt haben, waren wir eigentlich immer zwei examinierte Kräfte. Das war für die Gesamtversorgung des Patienten ideal, weil man nah an ihm dran war. Wenn es Probleme gab, konnte man die schnell erkennen und berichten. Heute bin ich in meinem Pflegebereich für zehn Patienten oder mehr allein zuständig Marianne: Die Qualität hat dadurch extrem abgenommen. Wir haben die Ganzheitlichkeit in der Pflege aufgeben müssen. Edelgard: Die Arbeitsbelastung ist deutlich gestiegen. Der Patientendurchlauf hat stark zugenommen, die Verweildauer ist viel kürzer geworden. Marianne: Nachts ist es ganz schlimm. Da ist man allein mit vielen Schwerkranken. Manche werden künstlich beatmet und müssen regelmäßig abgesaugt werden. Würde man hygienemäßig alles korrekt machen, wäre die Arbeit nicht zu schaffen. Man arbeitet zehn Stunden und mehr ohne Pause. Das ist wie im Hamsterrad. Anke: Das ist auch gefährlich, nachts erhalten viele Patienten ja Blutverdünner oder Blutkonzentrat. Da muss man aufpassen. Hanni: Der Personalschlüssel ist einfach nicht mehr ausreichend, sondern eindeutig gefährlich. Es passieren auch mehr Fehler. Jürgen: Wenn früher jemand zwei Wochen auf der Station gelegen ist, dann war die Pflege an sieben Tagen relativ leicht und sieben Tage waren pflegeintensiv. Inzwischen wurde die Verweildauer halbiert und nur noch die wenigen pflegeintensiven Tage sind übrig. Leichtere Fälle werden heute eben ambulant versorgt. Hanni: Es werden einfach viel mehr Patienten durchgeschleust. Früher hatte man vielleicht zwei Aufnahmen am Tag, heute sind es acht. Das bedeutet auch mehr Untersuchungen. Früher gab es eine am Tag, jetzt sind es zwei oder drei. Die müssen angemeldet, vorbereitet, begleitet und nachbereitet werden. Das ist aufwendig.
Für wie viele Menschen sind Sie im Nachtdienst zuständig?
Marianne: Wir haben 28 oder 29 Patienten auf unserer Station. Mit denen ist man allein.
War das früher anders?
Marianne: Da war zumindest die Station kleiner. Manchmal war man auch zu zweit.
Führt das nicht zwangsläufig zu gefährlicher Pflege?
Schirin: Ich hatte mal Nachtdienst auf einer herzchirurgischen Station. In der Schicht zuvor war eine Kollegin mit einem fiebrigen Infekt. Die hätte nicht arbeiten dürfen, wollte aber die Station nicht hängen lassen. Zu Beginn haben wir routinemäßig Blutzucker gemessen. Dabei ist uns eine Patientin mit Unterzucker aufgefallen. In der nächsten Stunde meldeten sich viele Patienten und sagten, dass ihn heiß sei und dass sie schwitzen müssten – allesamt Nichtdiabetiker mit niedrigem Blutzucker.
Was war los?
Schirin: Wir hatten einen Verdacht. Aber dann rief die kranke Kollegin auch schon ganz aufgelöst an und sagte, sie hätte die Medikamentenfläschchen vertauscht und allen Patienten Insulin statt Clexane (Antithrombosemittel, d. Red.) gespritzt. Wir mussten die ganze Nacht jede Stunde den Blutzucker messen und die Patienten mit Traubenzucker füttern. Das waren zum Teil richtig gefährliche Werte, die Patienten hätten uns ins Koma fallen können. Hanni: Wegen der Personalnot ist die Medikamentengabe inzwischen überhaupt gefährlich. Wir müssen ja unzählige Kurzinfusionen mit Schmerzmitteln und Antibiotika richten. Wenn wir zu wenige sind und immer auf die Patientenklingel achten müssen, kann es sein, dass wir beim Richten einer Infusion dreimal unterbrechen müssen. Man lässt die Infusion halb fertig stehen, und wenn man zurückkommt, weiß man oft nicht mehr, wie weit man mit dem Aufziehen war. Man muss ja immer die Wirkstoffmenge berechnen, um die gewünschte Verdünnung zu erreichen. Aber das ist leider nicht unser einziges Problem.
Wo drückt der Schuh noch?
Hanni: Wir bekommen oft Patienten von der Intensivstation, die besonders viel Aufmerksamkeit brauchen. Das ist während der Nachtwache kaum zu leisten, wenn wir auf unserer Station zu zweit 24 Patienten versorgen müssen. Vor einiger Zeit hatte ich einen frisch operierten Patienten mit künstlichem Darmausgang, dem es sehr schlecht ging. Wie sich herausstellte, war eine OP-Naht geplatzt. Ich musste die Rückverlegung auf die Intensivstation organisieren, es gab schließlich eine Not-OP. Erst ab 1 Ihr in der Nacht konnte ich mich um meine anderen Patienten kümmern und sie mit Schmerzmittel und Antibiotika versorgen, die schon um 22 Uhr oder 23 Uhr fällig gewesen wären. Einige Patienten hatte schon eine Schmerzlücke, da reichte ein leichtes Mittel nicht mehr. Anke: Ja, in solche Situationen kommt man ständig. Überlastungsanzeigen an meine Stationsleitung schreibe ich schon gar nicht mehr. Die nimmt eh keiner mehr ernst. Hanni: Geht mir genauso. In der besagten Nacht habe ich elf Stunden ohne Pause durchgearbeitet, mit ganz hohem Adrenalinspiegel. Marianne: Zehn Stunden ohne Pause, das ist inzwischen normal. Jürgen: Wenn man sich beschwert, sagen die Vorgesetzten: Sie wissen vor Ort am besten, was man weglassen kann beim Patienten. Obwohl das Haus mit dem Patienten einen Versorgungsvertrag geschlossen hat, verordnet man uns, diesen Vertrag zu brechen. Man muss ständig auswählen, was man am Patienten noch macht. Anke: Da kommen Sätze wie: Also, den Patienten muss man nicht jeden Tag waschen, wenn es stressig ist. Das sagt man schon den Auszubildenden. Hanni: Bei uns heißt es schon lange nicht mehr, dass die Pflege optimal sein muss, ausreichend muss sie sein, hört man jetzt. Aber vielen Angehörigen von Patienten reicht das nicht. Die beschweren sich. Marianne: Letztendlich interessiert der Patient überhaupt nicht. Hauptsache, Therapie und Geld stimmen.
Wie kommt das bei den Azubis an?
Schirin: Wir lernen in der Theorie Dinge, die wirklich Sinn machen. Dann gehen wir in die Praxis und man sagt uns, nein, so machen wir das nicht, dafür haben wir keine Zeit. Viele Azubis sind frustriert. Die sagen, okay, wir machen die Ausbildung noch, aber dann machen wir was anderes. Edelgard: Wir hätten keinen Pflegenotstand, wenn die Azubis bleiben würden. Man hat die Gesundheit der Menschen verkauft, indem man die Daseinsvorsorge ökonomisiert hat. Da werden sogar noch Überstunden gegen das Team angerechnet.
Was heißt das?
Anke: Man sagt uns: Wenn ihr Überstunden aufschreibt, ziehen wir euch eine Kraft ab, weil ihr dann zu teuer seid. Hanni: Typisch bei uns ist auch, dass fast niemand mehr 100 Prozent arbeitet, weil man den Dauerstress sonst nicht aushält. Karin (lacht): Mit Überstunden kommt man dann ja wieder auf 100 Prozent. Hanni: Aber mit 80 Prozent kannst du in Stuttgart nicht über die Runden kommen. Auto und Urlaub sind nicht mehr drin. Marianne: Ich schaffe noch 75 Prozent, weil ich viel länger brauche, um mich zu erholen. Mit meinem Mann im Hintergrund geht das. Den Job bis 67 machen? Das kann ich mir nicht vorstellen. Aber dann geht man früher raus und kriegt nur eine Minirente, obwohl man sein ganzes Leben gearbeitet hat – auch für andere Menschen.
Die Bundesregierung hat schon Personaluntergrenzen beschlossen. Hilft das?
Edelgard: Das reicht nicht, die Vorgaben sollen nur in sensitiven Bereichen wie der Intensivstation gelten. Wir finden, alle Bereiche in der Pflege sind sensitiv. Jürgen: In der Schweiz kümmert sich eine Pflegekraft um sieben Patienten. Davon können wir nur träumen. Es sind ja nicht nur Patienten gefährdet, sondern auch wir Pflegekräfte. Man steht ständig vor der Frage: Macht man jetzt Pause – und lässt noch mehr weg am Patienten? Oder lasse ich sie ausfallen, so dass ich meiner Verantwortung einigermaßen gerecht werden kann. Aber das geht auf die Gesundheit. Hanni: Egal was man tut, man hat immer dieses schlechte Gewissen. Schirin: Man knapst ständig an den eigenen Bedürfnissen. Morgens mache ich meine Literflasche Wasser voll, aber nach Schichtende ist die immer noch voll, weil ich nichts getrunken habe. Genauso ist es mit der Toilette. Ich geh den ganzen Tag nicht. Alle (lachen): Klar, du trinkst ja nichts.
Wie oft wird man hereingerufen, wenn man eigentlich frei hat?
Hanni: Sehr häufig. Jürgen: Jeder weiß, wenn man nicht einspringt, hat irgendjemand 50 Prozent mehr Patienten in seiner Schicht. Hanni: Man ist eine gute Schwester, wenn man es schafft, viel wegzulassen. Es wird ja nicht überprüft, was du alles nicht gemacht hast. Wenn nur das schlechte Gewissen nicht wäre. Anke: Es ist menschenunwürdig und gefährlich, wie wir pflegen müssen. Es ist genauso, wie es der junge Kollege der Frau Merkel im Wahlkampf ins Gesicht gesagt hat. Die Leute liegen zu lange in den nassem Windeln. Wenn morgens der Frühdienst kommt, ist das Bett schon durchfeuchtet. So sieht’s aus. Die Menschen bekommen keine Ansprache mehr und kriegen das Essen nicht gerichtet. Sie werden nicht mehr regelmäßig gedreht, wenn sie sich nicht mehr selber drehen können, kriegen dadurch Druckgeschwüre und Lungenentzündungen. Marianne: Von der Hacke bis zur Sohle in der Scheiße – so kommen manche schon aus der Notaufnahme zu uns. Ich weiß, die sind auch knapp, aber so lässt man einen Menschen nicht liegen. Das kostet eine Stunde, den Patienten zu säubern. Anke: Mundhygiene wird meist schon gar nicht mehr gemacht. Zähneputzen, die Prothese putzen, das sind Grundbedürfnisse, aber ich muss das weglassen. Schirin: Manchen Patienten müsste ich jede Stunde zu trinken geben, weil sie es selbst nicht mehr können. Geht aber nicht. Jürgen: Die kriegen unnötigerweise Infusionen, was die Infektionsgefahr erhöht. Anke: Wenn wir noch länger hier hocken, werden wir noch ganz emotional. Marianne: Das tut aber auch gut. Es wird gelogen und betrogen bei uns im Krankenhaus. Das regt mich auf. Bei der Dokumentation gilt: Hauptsache, es ist abgehakt und die Zahlen stimmen. Dann kommst du ins Zimmer, und es nichts gemacht. Anke: Manchmal fällt erst nach Tagen auf, dass jemand zu viel Blutverdünner bekommen hat. Das kriegt niemand mehr mit. Solche Dinge kann man unendlich aufzählen. Hanni: Die Defizite, unter denen die Patienten leiden, die spüren nur wir Pflegekräfte den ganzen Tag. Wenn ich Zeit habe, fallen mir viel mehr Dinge an Patienten auf. Ich kann das bei der Visite weitergeben, dann können wir sofort reagieren und zum Beispiel ein Medikament umstellen. Aber das gibt’s kaum noch. Ich kann nichts mehr berichten zum Patienten, kann seine Bedürfnisse nicht mehr erkennen und auch nicht mehr, wie sich der Krankheitsverlauf verändert. Das ist eine Degradierung unseres Berufs – und für Patienten massiv gefährlich.