Spitzenchöre gehören zur Stuttgarter Chorlandschaft wie Ensembles, die von vielen engagierten Laien getragen werden. In einer Serie stellen wir einige vor wie den Philharmonia Chor.

Lokales: Armin Friedl (dl)

S-Ost - Auf der Suche nach neuen Konzertformen hat der Philharmonia Chor Stuttgart die Besucher als Mitmachfaktor entdeckt: Bei einem vorweihnachtlichen Sonntagskonzert in der Kirche St. Fidelis in der Seidenstraße waren alle Besucher zum ungezwungenen Mitsingen eingeladen. Der Rahmen dazu war ambitioniert: Unter der Leitung von Johannes Knecht, seit 2012 auch Leiter des Stuttgarter Staatsopernchors, präsentierte der Philharmonia Chor etwa die „Magnificat-Antiphonen“ von Arvo Pärt oder Hugo Distlers Chorbearbeitung des Kirchenlieds „O Heiland reiß die Himmel auf“. Tobias Wittmann, Regionalkantor und Kirchenmusiker an St. Fidelis, gestaltete den Abend an der Orgel.

 

Mischung aus Vertrautem und weniger Bekanntem

Zwar mussten sich die Konzertbesucher nun nicht an den langen Haltetönen und der archaischen Klangwelt des zeitgenössischen Komponisten Pärt aus Estland versuchen. Als Einstiegshilfe waren für sie eher vertraute Adventslieder wie „Nun komm der Heiden Heiland“ oder „Tochter Zion“ vorgesehen. Diese Mischung aus Vertrautem und weniger Bekanntem ist aber typisch für den seit mehr als 30 Jahren bestehenden Chor: „Wir bringen Musik aus den verschiedenen Epochen zusammen, zeigen so verschiedene Aspekte eines bestimmten Themas“, so Ursula Hofmeister, Stellvertreterin des Vorsitzenden, „und in St. Fidelis haben wir vor allem Adventslieder ins Programm genommen. Wir haben da also Jesus in freudiger Erwartung entgegen gesehen.“

Experimentierfreudig geht es weiter im Konzertkalender: Der jährlich feststehende Auftrittstermin im Weißen Saal des Neuen Schlosses, jetzt am 24. Februar um 19 Uhr, gehört dem Thema „Die Kunst des Küssens“ und verbindet Musik mit Literatur. Dazu ist eine Uraufführung des Komponisten Jan Kopp vorgesehen. „Kopp entwickelt das Stück mit uns zusammen, da er unsere Arbeit sehr spannend findet“, so der Vorsitzende Albrecht Irion, „er weiß also, was er mit uns alles machen kann“. Ein anderer fester Programmpunkt ist „De angelis“, mit dem der Chor viel unterwegs ist: „Da singen wir Engelschöre von Komponisten der verschiedensten Epochen“, so die Sängerin Isabella Jesemann.

Zwei mal B: Bach und Bernstein

Gegensätze gehören dazu: Zum Adventskonzert im vergangenen Jahr wurden in St. Fidelis dem Magnificat von Johann Sebastian Bach die „Chicester Psalms“ von Leonard Bernstein zugefügt. „Die einzige Gemeinsamkeit waren die ersten Buchstaben in den Nachnamen der Komponisten“, so die Sängerin Nele Hartmann. Oder der Chor wagt Experimente: Das Projekt „Idomeneo“ mit der gleichnamigen Oper von Mozart war so eins. 2014 hat die Mezzosopranistin Cornelia Lanz den Verein Zuflucht Kultur gegründet.

Die frühere Studentin der Musikhochschule Stuttgart bringt Opern- und Gesangsprofis mit Flüchtlingen zusammen, die in Deutschland aufgenommen worden sind. Entlang vertrauter Stoffe wie Mozarts „Così fan tutte“ oder eben „Idomeneo“ zeigten die Geflohenen ihr Können und berichteten ihre Schicksale. Im Juli 2016 war der Philharmonia Chor mit „Idomeneo“ bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen, weitere Aufführungen waren unter anderem bei den Lucerne Festspielen.

Prominent auftrumpfen können die Stuttgarter aber auch: Am 29. April 2012 begleiteten sie Anna Netrebko und ihren damaligen Mann Erwin Schrott durch einen Gala-Abend im Festspielhaus Baden-Baden.

Der Klang des 19. Jahrhunderts

Bei all dieser Vielseitigkeit hat der Philharmonia Chor dennoch eine künstlerische Heimat: Das 19. Jahrhundert. „Wir beschäftigen uns sehr viel mit dieser Zeit. Da würde ich gerne leben“, gesteht die Sängerin Birgit-Caroline Grill: „Ich kann mich eben gut hineinfühlen in diese Zeit. Ich sehe das so, als wäre da noch alles gut gewesen. Zumindest gehe ich so ran als meine innere Haltung. Besonders mit Brahms kann ich mich sehr gut identifizieren“. Knecht bestätigt dies aus seiner Dirgentensicht: „Der Chor weiß sehr gut, aus welchem Geist heraus die Musik in dieser Zeit entstanden ist“. Irion: „Die Bandbreite der Musik in dieser Zeit finden wir besonders spannend. Es ist immer aufs Neue schön, den Gesamtklang unseres Chors zu erleben. Und in der Musik des 19. Jahrhunderts finden wir eben besonders gut zueinander.“ Knecht schätzt diese Haltung: „Das ist unsere Identität, die müssen wir darstellen. Das schätzt auch das Publikum. Wir müssen aber auch offen sein, auch für die Events von heute wie der Auftritt mit Anna Netrebko. Daran müssen wir weiter arbeiten, denn darauf sind wir angewiesen, die staatlichen Fördermittel reichen bei weitem nicht aus.“

Gemeinsames Freuen in den Aufführungen

Knecht schätzt die professionelle Haltung des Chores: „Es ist ein Chor für Leute mit Ambitionen. Jeder kommt mit voller Kenntnis seiner Noten in die Proben. Dort können wir mit wenigen Terminen viel erreichen, indem wir uns auf die Feinarbeit konzentrieren.“ Zugleich schätzt er die Leidenschaft der Chormitglieder: „Das Publikum spürt die Freude am gemeinsamen Erleben einer Aufführung. Das ist authentisch. Die vielen professionellen Aufnahmen auf dem Klassik-Markt sind nicht gut für den Geschmack: Sie gaukeln eine Perfektion vor, die doch erst nach unzähligen Aufnahme-Schnitten so entstanden ist.“