Nach unserer kurzen Vergnügungsreise durch die Philosophie nun zu den Zwangsreisen der Gegenwart. „ Flüchtling“ ist zum Wort des Jahres gewählt worden. Eine nachvollziehbare Entscheidung?
Ja. Im Gegensatz zum Terror, den ich für kein großes, nachhaltiges Thema halte . . .
Wie bitte?
Terror gibt es, solange ich mich erinnern kann. Das ist schrecklich für die Betroffenen, aber kein wirklich neues Phänomen. Die deutsche RAF und die palästinensische Fatah-Bewegung, die deutschen Neonazis, die islamistische Al-Kaida-Organisation und schließlich die Verbrecher vom sogenannten Islamischen Staat: Terror ist keine Macht, sondern ein Mittel zum Zweck, zu dem in der Vergangenheit schon viele gegriffen haben und in Zukunft auch weiterhin greifen werden. Das halte ich nicht für das ganz große Thema. Dagegen: Millionen von Menschen, die zu uns kommen werden, das ist eine gewaltige Herausforderung! Wie Marx gewusst hat: die Menschenströme folgen den Kapitalströmen.
Sie sehen kein Ende der Flüchtlingswelle?
Nein. Wir können keine Globalisierung de luxe bekommen. Wir können nicht die Vorteile globaler Märkte abschöpfen, ohne unerwünschte Nebenwirkungen zu erzeugen. Völlig egal, ob wir über Zuwanderungskorridore oder über Zäune sprechen: wir werden die Flüchtlinge nicht aufhalten. Sie kommen – ein Faktum, das wir anerkennen müssen.
Wie werden die Flüchtlinge unsere Gesellschaft verändern?
Wir müssen viele Flüchtlinge aufnehmen, weil wir gar nicht anders können, auch wenn ich glaube, dass es dabei viele Schwierigkeiten geben wird. Ich sehe Hunderttausende von Kindern, die sich nicht zu einer Parallelgesellschaft entwickeln dürfen, sondern in unser Bildungssystem integriert werden müssen. Diese Kinder sprechen noch kein Wort Deutsch, trotzdem müssen wir ihnen von Anfang an gleiche Chancen einräumen – das wird uns eine enorme Kraftanstrengung abverlangen. Ich sehe auch Hunderttausende von jungen Männern, die ein Frauenbild haben, das wir nicht akzeptieren können. Der Machismo wird zunehmen, ebenso Arbeitslosigkeit und Kriminalität, keine Frage.
Wären Zäune nicht die bessere Alternative?
Nein. Wollen Sie auf Flüchtlinge schießen wie die US-Amerikaner an der mexikanischen Grenze? Da sind schon über 10 000 Menschen gestorben, auch Frauen und Kinder! Egal, welche Schwierigkeiten wir bekommen werden: wir müssen die Menschen aufnehmen, die vor dem Hungertod oder dem Terror der IS flüchten. Das entspricht unseren Werten und ist unsere humanitäre Aufgabe.