Beim Philosophicum in Lech am Arlberg begegnen sich Experten und Laien auf Augenhöhe. Ein geisteswissenschaftlicher Trend.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Lech - Wenn Ludwig Muxel an die Anfänge zurückdenkt, schüttelt er lächelnd den Kopf. „Wir haben damals im Gemeinderat darüber diskutiert zu beschließen, dass man während des Philosophicums nur im Schritttempo durch den Ort fahren darf“, erzählt der Bürgermeister von Lech am Arlberg. „Die Teilnehmer des Symposiums waren alle schwarz gekleidet, spazierten gedankenverloren herum und achteten so gar nicht auf die Autos.“ Heute ist die Verkehrssicherheit während des fünftägigen Philosophicums in dem malerischen österreichischen Hochgebirgsdorf kein Thema mehr. Die Teilnehmer sind ebenso fest im Hier und Jetzt verankert wie ihre ganze Veranstaltung. Sie gehört zu den wichtigsten geisteswissenschaftlichen Symposien im deutschsprachigen Raum. Gerade erst ist die 20. Auflage in Lech zu Ende gegangen.

 

„Die Philosophie muss raus aus ihrem akademischen Elfenbeinturm“, sagt der deutsch-brasilianische Philosoph Carlos Fraenkel. Der Professor, der in Montreal lehrt, hält nichts von der platonischen Metapher, dass der Philosoph zur großen Wahrheit aufsteigt und diese dann von oben herab über die breite Masse ausstreut. Ganz im Zeichen der von Fraenkel angeregten „Begegnung auf Augenhöhe“ steht die Veranstaltung in Lech und liegt damit in einem allgemeinen Trend. Immer mehr Menschen erstarren nicht mehr in Ehrfurcht, wenn es um Philosophie geht. Sie haben keinerlei Berührungsängste. „Die Philosophie hilft dabei, sich mit der eigenen und einer anderen Überzeugung auseinanderzusetzen. Sie lässt sich bei Konflikten produktiv nutzen“, so Carlos Fraenkel, der entsprechende Erfahrungen an der Universität in Ost-Jerusalem gemacht und diese im Buch „Mit Platon in Palästina“ aufgeschrieben hat.

Anregungen zum Selberdenken

Eine kompliziert und zerrissen erscheinende Welt wirft offenbar Grundsatzfragen auf. Antwortansätze werden auch in der Philosophie gesucht, also dort, wo die Welt und die menschliche Existenz ergründet werden sollen. „Das Philosophieren regt die Menschen zum Selberdenken an“, erläutert Lambert Wiesing, Philosophieprofessor mit Lehrstuhl in Jena. Und der österreichische Fachjournalist und Moderator Michael Fleischhacker fügt hinzu: „In einer maschinellen, automatisierten Welt steigt das Bedürfnis zum autonomen Denken. Eine Veranstaltung wie die in Lech gibt dazu viel Anregung.“

Die Philosophie boomt: Das wird in Lech deutlich. Schon im Mai war die Veranstaltung ausgebucht. Die Macher um den Bürgermeister Ludwig Muxel und den wissenschaftlichen Leiter Konrad Paul Liessmann sind mit 800 Teilnehmern, die sich zu den Foren in der Neuen Kirche im Ortszentrum treffen, an der Kapazitätsobergrenze angekommen. Auch vergleichbare Veranstaltungen im Schweizer Sils Maria und in Köln sind bestens besucht. Das wachsende Interesse an der Philosophie lässt sich auch auf dem Magazinmarkt ablesen. Mit den Zeitschriften „Hohe Luft“ und dem „Philosophie Magazin“ gibt es jetzt gleich zwei Publikationen zum Thema. Was nicht nur positiv gesehen wird. In der „FAZ“ beispielsweise wurde jüngst kritisiert, dass das Populärwissenschaftliche die Oberhand gewinnt. Gleichzeitig bemängelte der Autor, dass es keinen bedeutenden deutschen Philosophen mehr gibt, und meldete Zweifel an, ob der Talkshow-erprobte Richard David Precht überhaupt ein Philosoph sei oder nicht eher Entertainer? Eine philosophische Frage.

In Lech käme allerdings niemand auf die Idee, aus dem Allgemeinverständlichen einen Vorwurf zu konstruieren. Hier verbringen interessierte Laien, unter ihnen Architekten, Ärzte und Manager, aber auch Experten einen fünftägigen Aktivurlaub für den Geist, lassen sich in Vorträgen und Podiumsdiskussionen inspirieren. Auch viele Lehrer sind dabei, die sicher nichts dagegen hätten, wenn Philosophie, wie in Frankreich, auch in Österreich, Deutschland und der Schweiz verpflichtendes Abiturprüfungsfach wäre.

Eingebauter Erdungsmechanismus

1444 Meter über dem Meeresspiegel gibt es hochfliegende Gedanken, allerdings mit eingebautem Erdungsmechanismus – dann nämlich, wenn die Symposiumsteilnehmer in einem der vielen Restaurants mit den Einheimischen ins Gespräch kommen. Zum Beispiel im Wirtshaus Ambrosius: Hier gibt es Après-Phil. statt Après-Ski. An der Bar stehen bunt durcheinander gemischt die Philosophicum-Leute und die Fußballer der SPG Raiffeisen Arlberg, die nach dem Training auf ein Bier vorbeischauen. Über das Witze-Erzählen kommt man sich schnell näher. Wie sagte selbst der nicht als besonders lebenslustig aufgefallene Theodor W. Adorno: „Philosophie ist das Allerernsteste, aber so ernst auch wieder nicht.“ Besonders beliebt an diesem Abend in Vorarlberg: Witze, die die Steirer schlecht aussehen lassen. Zu der heiteren Runde gesellen sich gegen später auch noch die Mitarbeiter des veranstaltenden Philosophicum-Vereins, die in einheitlichen Poloshirts und Fleecejacken rein optisch auch locker dem ortsansässigen Skiverein angehören könnten.

„Mir hat’s leider noch nie zum Philosophicum gereicht, aber g’scheit mitreden, das tu’ ich gern“, sagt die Chefin des Hotels Lärchenhof beim Frühstück am nächsten Morgen. Ihre Gäste drängen zur nächsten philosophischen Veranstaltung. „Ruhe sei dem Menschen heilig“, gibt die Mutter der Besitzerin den Teilnehmern mit auf den Weg. Was gut zum Motto des 20. Philosophicum passt: „Über Gott und die Welt. Philosophieren in unruhiger Zeit“. Befürchtungen, die der Titel mit sich bringt, bewahrheiten sich in Lech nicht. Der Floskel „über Gott und die Welt“ wird schnell die Beliebigkeit genommen, wenn sie in einen aktuellen Kontext gesetzt wird. Und so findet unter der Überschrift der Heidegger-These „Nur noch ein Gott kann uns retten“ eine sehr lebhafte Diskussion statt, die jeder TV-Talkrunde zur Ehre gereichen würde. Im großen Bogen geht es um die Trennung von Staat und Kirche, den IS, die Flüchtlingsfrage, ein Burkaverbot und um die Frage, wie weit Toleranz gehen muss und wann eine Grenze überschritten ist. Eine entsprechende Trennlinie wurde vor allem von der islamkritischen Soziologin Necla Kelek sehr deutlich gezogen.

Wenn die Philosophie nicht weltfremd ist

Allein diese interdisziplinäre Diskussion zeigt, dass Philosophie nicht weltfremd sein muss. Das beweisen dann auch die weiteren Vorträge des Literaturwissenschaftlers Rüdiger Safranski, der über den Willen zum Glauben spricht, oder die Ausführungen des auch in elitären Philosophenkreisen gerade ziemlich gehypten Markus Gabriel.

Und bestimmt kein Zufall ist es auch, dass in diesem Jahr der mit 25 000 Euro dotierte Essaypreis des Philosophicum Lech an den Soziologen Hartmut Rosa und sein Werk „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“ geht. Das Buch, so die Jury, sei für alle, die wissen wollen, was trotz aller Krisen das gute Leben ausmacht. Das dürfte dann in der Tat nicht nur Fachleute interessieren, sondern auch Laien.

Dies gilt auch für das Philosophicum 2017, für das sich die Anmeldungen jetzt schon stapeln. Thema im nächsten Jahr: „Mut zur Faulheit“. Das ist ganz im Sinne von Ludwig Muxel. „Mir gefällt es, wenn viele Leute das Philosophicum auch als Entschleuniger wahrnehmen“, sagt der Bürgermeister. Als reine Tourismusaktion will er die philosophischen Tage aber auf keinen Fall verstanden wissen, sondern vor allem als hochkarätige Kulturveranstaltung.

Für die philosophischen Handlungsreisenden geht es bereits an diesem Donnerstag im Engadin weiter, wenn in Sils Maria das 37. Nietzsche-Kolloquium beginnt. Ausdrücklich wird vom Veranstalter darauf hingewiesen, dass sich das Programm nicht nur an Spezialisten wendet. Wie heißt es dazu in der örtlichen Werbung: „Friedrich Nietzsche kam als Tourist nach Sils Maria und ging als Philosoph.“