Das Leben wird immer komplizierter, die Menschen suchen Orientierung – und werden bei den Denkern fündig. In Fernsehsendungen, Zeitschriften, Büchern und Praxen bieten die fast inflationär ihre Hilfe an.

Mainz - Die Philosophie boomt. Gerade diejenige akademische Disziplin, die als „brotlose Kunst“ par excellence verschrien ist, erweist sich zunehmend als lukratives Geschäftsfeld – zumindest dort, wo sie im populären Gewand auftritt. Das zeigt etwa der Zeitschriftenmarkt, wo im vergangenen Jahr zwei neue populärphilosophische Magazine an den Start gegangen sind. „Unser Erfolg ist ein nachhaltiger Indikator für das gewachsene Interesse an philosophischen Fragestellungen“, sagt Wolfram Eilenberger, der Chefredakteur des „Philosophie-Magazin“.

 

Philosophie auf der Spiegel-Bestenliste

Auch auf dem Buchmarkt lässt sich mit sprachlich aufgepeppten Versionen eigentlich trockener Geistesübungen Geld verdienen: Momentan steht der in Stuttgart lehrende Philosoph Philipp Hübl mit seinem jüngst erschienen Werk „Folge dem weißen Kaninchen in die Welt der Philosophie“ auf Platz zwölf der „Spiegel“-Bestsellerliste Taschenbuch; einige Ränge später findet sich auch Richard David Precht, der 2008 mit „Wer bin ich – und wenn ja wie viele?“ das erfolgreichste Sachbuch des Jahres geschrieben und seitdem regelmäßig Publikumserfolge erzielt hat. Nur: woher diese Nachfrage?

„Zeiten der Krise und der kulturellen Verunsicherung sind immer gute Zeiten für die Philosophie“, sagt Eilenberger. Die Gestaltung des eigenen Lebens erscheint vielen Menschen offenbar als eine Herausforderung, die mittlerweile nicht mehr ohne fremde Hilfe zu bewältigen ist. Platon definierte die Philosophie einst als die Kunst, das Sterben zu lernen; heute müsste es wohl eher heißen: Philosophie heißt Leben lernen. „Die Menschen haben einen zunehmenden Orientierungsbedarf“, meint der Philosoph Thomas Gutknecht. Traditionelle Sinnstiftungsinstitutionen wie die Kirche haben an Bedeutung verloren. Auch die Institution der Familie hat in den vergangenen Jahrzehnten einen Auflösungsprozess durchlebt. Dazu kommt der wachsende Druck, der auf den Menschen infolge des Wandels der Arbeitsverhältnisse lastet. Wo sichere Jobs fehlen, Flexibilität und Mobilität gefragt sind, fühlen sich viele überfordert. Schon Ende der 1990er Jahre sprach der französische Soziologe Alain Ehrenberg vom „erschöpften Selbst.“ Dem könne die Philosophie entgegenwirken, so Gutknecht: „Es geht dabei vor allem um Mündigkeit: den Anspruch, das eigene Leben zu gestalten.“ Der Philosoph betreibt selbst an drei Standorten in und um Stuttgart eine philosophische Praxis, in der Menschen mit unterschiedlichsten Anliegen Rat suchen können. Über 50 solcher Praxen gibt es inzwischen bundesweit, sagt Gutknecht. Dabei gehe es nicht darum, psychologischen Therapien Konkurrenz zu machen – wer an einer Depression leidet, benötigt dementsprechende Behandlung. Vielmehr sieht Gutknecht, der zugleich Präsident der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis ist, seine Disziplin in einer gesellschaftlichen Verantwortung: „Es gilt gegen die Subjektmüdigkeit Stellung zu beziehen.“

Der Denker als Helfer für das „erschöpfte Selbst“

Der Ansatz kommt aus der Antike

Neu ist dieser Anspruch nicht. Viele antike Denker begriffen ihre Lehren als Anleitung zur Kunst der Lebensführung. Gleichwohl dominieren gegenwärtig an den wissenschaftlichen Instituten fachliche Ansätze, die eher sprachtheoretische und logische Probleme bearbeiten als Fragen der individuellen Lebenspraxis beantworten. Zugleich herrscht auf dieser Seite eher Skepsis an Popularisierungsversuchen à la Precht. Eine online erscheinende Fachzeitschrift sieht so durchaus die Möglichkeit, dass die Populärphilosophie der akademischen den Rang ablaufen könnte. Der emeritierte Kieler Professor Wolfgang Kersting übernahm schon vor fünf Jahren die Herausgeberschaft eines Suhrkamp-Bands, in der sich verschiedene Autoren an einer „Kritik der Lebenskunst“ versuchten. Philosophie dürfe nicht zu einem „Wellness-Service für das Lebensgefühl“ verkommen, heißt es in dieser Sammlung unter anderem.

Tatsächlich fällt der individualistische Zuschnitt der populärphilosophischen Angebote auf. „Kann ich mein Leben ändern?“ lautet der Titel der Sommerausgabe des „Philosophie-Magazin“. Damit greift die Zeitschrift den Titel eines Buchs von Peter Sloterdijk auf. Gerade bei Sloterdijk ist der Appell an den Einzelnen Bestandteil eines elitären Programms, in dem der Mensch zu immer größerer Marktförmigkeit getrieben werden soll. „Das Leben ist ein Zehnkampf“, sagt der Karlsruher Professor dementsprechend in einem Interview mit Eilenberger. In seinem Buch erklärt Peter Sloterdijk das ökonomische Gebot zur Mobilisierung aller Potenziale des Selbst, das seinen prägnantesten Ausdruck in der Formel von der „Ich-AG“ gefunden hat, zu einer anthropologischen Konstante.Aber auch so stellt sich die Frage, inwieweit die Zuwendung zum eigenen Ich einer Abwendung von kollektiven Versuchen, die Frage nach dem „guten Leben“ zu beantworten, gleichkommt und insofern apolitisch ist. „Wir wollten explizit das Problem aufwerfen, wie die Veränderung des eigenen Lebens mit der Frage zusammenhängt, wie Gesellschaft verändert werden kann“, sagt Eilenberger. Möglich, dass die Antworten darauf eher auf den von Occupy besetzten Plätzen als in einer Talkshow formuliert werden.

Alles dreht sich ums gute Leben