Das Higgs-Teilchen, das der Physiker Peter Higgs lange vorhergesagt hatte, ist inzwischen gefunden. Nun haben Stuttgarter Forscher auch den Higgs-Mechanismus nachgewiesen – ganz ohne Teilchenbeschleuniger.

Stuttgart - Physiker müssen fröhliche Leute sein. Sie freuen sich, wenn sich ihre Messwerte aus Experimenten in ein theoretisches Konzept fügen. Oder wenn eine simple Theorie unsere scheinbar komplexe Welt zuverlässig beschreibt. Der Weg zum Erfolg ist indes mühsam. Von der theoretischen Vorhersage bis zur Entdeckung des sogenannten Higgs-Teilchens, das – verkürzt gesagt – der Materie ihre Masse verleiht, vergingen 50 Jahre. Dazu bauten Tausende Physiker am europäischen Teilchenforschungszentrum Cern bei Genf die wohl gigantischste Maschine der Welt, die Protonen aufeinanderprallen lässt.

 

Doch es geht auch eine Nummer kleiner. Ein Schreibtisch in einem Stuttgarter Labor reicht auch. Der Physiker Martin Dressel und sein Doktorand Uwe Pracht haben nun ebenfalls den Higgs-Mechanismus in einer nur stecknadelkopfgroßen Materialprobe dingfest gemacht. Das Ergebnis ist bei Weitem nicht so spektakulär wie das Higgs-Teilchen im Teilchenbeschleuniger. Doch die Physikergemeinde freut, dass sich hier Theorie und Praxis schön zusammenfügen und die gleichen physikalischen Prinzipien gelten, egal ob im tiefgekühlten Festkörper oder im Hochenergieknall einer Teilchenkollision.

Dazu muss man wissen, dass auch Peter Higgs, der das nach ihm benannte Teilchen vorhersagte, aus den Vorarbeiten anderer schöpfte. Dazu zählt der US-Amerikaner Philip Anderson, der 1977 den Physiknobelpreis erhielt. Der heute 93-jährige Anderson beschäftigte sich in den 50er-Jahren mit gewissen Phänomenen in metallischen Supraleitern – Materialien, in denen bei einer Temperatur von typischerweise minus 270 bis minus 260 Grad Celsius der elektrische Widerstand plötzlich verschwindet und der Strom verlustfrei fließt.

Die Elektronen schwingen gemeinsam

Anderson hatte damals noch keine Ahnung, dass seine Theorie universellen Charakter hat: In Supraleitern beschreibt sie bestimmte Schwingungen von Elektronen, in der Teilchenphysik führt sie zum Higgs-Teilchen – „wie zwei Seiten einer Medaille“, erklärt Martin Dressel vom 1. Physikalischen Institut der Universität Stuttgart. Das Problem war: die Teilchenphysiker verstanden ganz einfach die Theorien der Festkörperphysiker nicht. Erst der japanische Kollege Yoichiro Nambu (Nobelpreis 2008) übertrug die Erkenntnisse von Philip Anderson in die Teilchenphysik. „Dann schnappten sich Peter Higgs und mindestens sechs andere die Ideen, ergänzten das Modell und fügten das Higgs-Teilchen hinzu“, beschreibt Anderson das Erfolgsrezept. Und weiter, mit der wohlwollenden Weisheit des Älteren: „Für mich war das alles offensichtlich.“

Anderson schreibt dies in seinem Kommentar zur jüngsten Veröffentlichung von Martin Dressel und Uwe Pracht im Fachjournal „Nature Physics“. Zusammen mit Kollegen aus Israel, Indien, Russland und den USA haben die beiden Stuttgarter Physiker den sogenannten Higgs-Mechanismus im Supraleiter offiziell bestätigt. Bildlich gesprochen entspricht dies einer kollektiven Schwingung von Elektronen im Material. Bisher galt unter Festkörperphysikern, und auch für Anderson, dass sich diese Schwingung nicht offenbart. Viele Versuche zum Nachweis scheiterten nämlich. Man musste offenbar mit experimentellem Geschick genau hinschauen, und auch Dressel und Pracht sind nur mit einer Portion Glück darauf gestoßen.

Beim Vermessen von Supraleitern stießen die Physiker auf Phänomene, die am Besten mit den Voraussagen von Anderson in Einklang zu bringen waren: Beim Durchstrahlen der Proben mit Terahertzstrahlen fehlte plötzlich ein Quäntchen Energie. Die Higgs-Schwingungen mussten sie aufgesogen haben. Die Messapparatur passt bequem auf einen Schreibtisch: eine Terahertz-Strahlungsquelle und ein Empfänger, dazwischen ein paar optische Elemente, die den Strahl durch die tiefgekühlte Probe leiten. Die Probe besteht aus einem hauchdünnen Film aus Niobnitrid oder Indiumoxid, nur einhundert Atomlagen dick.

Für Martin Dressel und Uwe Pracht, die nach eigenen Angaben reine Grundlagenforschung betreiben, ist die Erkenntnis eher ein Art Schlussstein in einem Gewölbebogen des Theoriegebäudes. Praktisch lässt sich damit wenig anfangen – ähnlich wie mit dem Higgs-Teilchen. Aber es macht die Physiker glücklich.