Auf Initiative des kaiserlichen Notars Gottlieb Wilhelm Hoffmann entsteht im 19. Jahrhundert in Korntal eine neue Heimat für Pietisten. Im „heiligen Korntal“, wie der Ort im Lauf der Jahre auch genannt wird, entstehen viele Einrichtungen, die heute über den Landkreis hinaus bedeutend sind,

Es ist der 28. Februar 1817, als Gottlieb Wilhelm Hoffmann einen Vorschlag für die Einrichtung religiöser Gemeinden macht, der, wie sich später zeigt, von besonderer Bedeutung ist. Der Bürgermeister von Leonberg ist einer der führenden Pietisten im Land und unterbreitet König Wilhelm I. von Württemberg die Bitte, die Auswanderung der Pietisten durch Gründung unabhängiger religiöser Gemeinden innerhalb des Landes einzudämmen. Er wollte nicht länger zusehen, dass vermögende Bürger das Land in Richtung Südrussland verließen. Die Zahl der Auswanderungswilligen stieg – in der Hungersnot 1817 zogen laut der Korntaler Brüdergemeinde landesweit mehr als 17 000 Menschen fort.

 

Hoffmann gab seine Ämter in Leonberg auf und wurde Vorsteher der religiös und politisch selbstständigen Gemeinde Korntal. „Die Gründungsinitiative ist eine Hoffnungsinitiative gewesen“, hatte der frühere Weltliche Vorsteher Klaus Andersen anlässlich der Eröffnung des „Zeitraums am Türmle“ gesagt – einer ständigen Ausstellung über die Historie der evangelischen Brüdergemeinde Korntal.

Zahl der Auswanderungswilligen ist sehr groß

1819, also zwei Jahre nachdem Hoffmann seine Bitte geäußert hatte, kam König Wilhelm I. von Württemberg dem Vorschlag nach und unterzeichnete eine sogenannte Fundationsurkunde. Im selben Jahr zogen 68 Gründerfamilien aus Württemberg auf die Markung Korntal. Das waren zwar weniger als die erwarteten 700 Kolonistenfamilien, aber die Brüdergemeinde war gegründet.

Zuvor hatte Hoffmann stellvertretend für die Brüdergemeinde das 300 Hektar große Rittergut Korntal gekauft. Für den Kaufpreis von 113 700 Gulden wurden Darlehen aufgenommen, die meist von Pietisten stammten. Viele von ihnen wurden dort heimisch.

Sie waren andernorts im Land in Gewissensnöte gekommen: Das Zeitalter der Aufklärung stand gegen den Pietismus, dieser Erweckungsbewegung, die die Bekehrung des Einzelnen und dessen praktische christliche Lebensweise betont. Friedrich II., Vorgänger des amtierenden Königs Wilhelm I., hatte das aufklärerische Denken in der Kirche durchgesetzt: Das Gesangbuch wurde geändert, Landesbürger evangelischer Konfession wurden teils mit Geld- und Körperstrafen gezwungen, die neuen Ordnungen anzunehmen; Beamte und Pfarrer, die nicht dagegen vorgingen, wurden gar abgesetzt.

Das erste Gebäude der neue Gemeinde in Korntal war der Große Saal, der heute noch das zentrale Gebäude der Brüdergemeinde ist. Das Gotteshaus wurde am 7. November 1819 eingeweiht – zu einem Zeitpunkt, als die meisten Gründerfamilien noch vorläufig untergebracht waren. Nach Korntal zuziehen durften zunächst nur Mitglieder der Brüdergemeinde. Diese Sonderrechte wurden erst mit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 aufgehoben.

Seit der Gründung des Ortes sei das „Heilige Korntal“ ein stehender Begriff, heißt es bei der Brüdergemeinde. Das gilt auch heute noch. Nicht etwa, weil die Menschen, die hier siedelten, besser oder heiliger sein wollten als andere: „Mit Ernst Christ sein“ – diesem Wunsch Martin Luthers wären die Gründer Korntals gefolgt. „Der Glaube sollte kein Lippenbekenntnis sein, sondern auf einer persönlichen Beziehung zu Jesus Christus und auf dem Vertrauen auf sein Wort gründen“, heißt es auf der Internetseite der Gemeinde.

Später, Ende des 20. Jahrhunderts, war der Begriff vom heiligen Korntal nicht nur positiv konnotiert. Entsprang der Pietismus einem Gefühl der mangelhaften Frömmigkeit und unzureichender christlicher Lebensführung, stand Korntal für eine fromme christliche Lebensführung – was viele externe Betrachter befremdete. Gleichwohl stand – und steht – die Brüdergemeinde für etliche soziale Einrichtungen. Aus dem christlichen Glauben heraus waren spätestens seit 1823, der Gründung der Diakonie der evangelischen Brüdergemeinde, etliche Einrichtungen der Jugend- und Altenhilfe entstanden.

1819 wurden zunächst das Knabeninstitut – eine Höhere Schule nebst Heim – und 1821 eine vergleichbare Einrichtung für Mädchen gegründet. Die Schulen wurden nach 1871 staatlich, die Heime aufgegeben. 1823 entstand auf persönliche Initiative Hoffmanns die Kinderrettungsanstalt Hoffmannhaus Korntal. Auf dem Gelände des ehemaligen Kinder- und Jugendheims befinden sich heute Tagesgruppen und die Johannes-Kullen-Schule. Als Heimschule gegründet, ist sie heute ein sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum. Der zudem im Jahr 2010 eröffnete Schulbauernhof Zukunftsfelder ist der einzige in der Region Stuttgart, einer der wenigen landesweit.

Einrichtungen sind in der landkreisweiten Planung integriert

Im Jahr 2014 hatten sich Kirchengemeinde und Diakonie einem unrühmlichen Kapitel ihrer Geschichte zu stellen. Ein früheres Korntaler Heimkind, Detlev Zander, hatte Fälle von physischer, psychischer und sexueller Gewalt in den Kinder- und Jugendheimen hauptsächlich in den 1950er bis 1970er Jahren publik gemacht.

Die Fälle wurden aufgearbeitet, die Diakonie betont heute die Existenz von Schutzkonzepten in den Einrichtungen. Wie alle Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen im Land stehen sie längst unter der Aufsicht des Kommunalverbands für Jugend und Soziales und sind fester Bestandteil der landkreisweiten Planungen, wenn es darum geht, Kinder und Jugendliche in schwierigen Lebenssituationen anders als im Elternhaus zu versorgen.

Höher, größer, schneller – in unserer Serie „Rekordverdächtig“ stellen wir Orte in der Region Stuttgart vor, die auf besondere Weise herausragend sind.