Kann man in 100 Tagen die Welt verändern? Das haben sich nicht einmal die Berliner Piraten vorgenommen, die eine erste Bilanz ziehen.  

Berlin - Sanft schimmern die Lichtlein der Weihnachtspyramide im Foyer des Berliner Abgeordnetenhauses. Von der Kantine her riecht es nach Rotkohl. Gleich tagt das Parlament zum letzten Mal in diesem Jahr. Es könnte ein geruhsamer Donnerstagnachmittag werden im preußischen Landtag. Aber seit die Berliner vor drei Monaten ihr Parlament gewählt haben, ist nichts mehr mit Ruhe. Seitdem wird hier Geschichte gemacht. Das liegt an Leuten wie Pavel Mayer.

 

Mayer, ein sehr freundlicher Mann mit grau meliertem Pferdeschwanz und Buddhastatur, ist Pirat. Am 18. September wurde er Parlamentarier. Mit 8,9 Prozent schaffte seine Partei zum ersten Mal den Sprung in ein Landesparlament. Das konnte so keiner ahnen. Nicht einmal die Piraten selbst. 15 Leute hatten sie auf ihre Liste gesetzt. Lange sah es in den Umfragen nicht so aus, als hätte auch nur einer eine Chance. Aber alle wurden gewählt. Und jetzt sind sie plötzlich Politiker. Nun sitzt Mayer etwas rotäugig vor seinem Mittagsmahl und hustet. Die Erkältung will nicht weggehen. Es war einfach ein bisschen viel in letzter Zeit. "Obwohl", sagt Mayer, "ich finde eigentlich, wir haben das bisher ganz gut hingekriegt. Richtig grobe Fehler haben wir nicht gemacht." Das wäre - angesichts der Aufgabe - nach 100 Tagen eine ganz gute Bilanz.

Schon am Tag eins nach der Wahl kann man eine Ahnung davon entwickeln, dass hier nicht eine neue Partei ein bisschen mitspielen will. Hier landen gerade ein paar parlamentarische Aliens auf dem Planeten Politik. Ihr bescheidenes Ziel: diesen Planeten zu retten, indem sie ihn verändern.

Es wird getwittert, gejabbert, gepostet

Es ist Montag nach der Wahl, Pressekonferenz. Der Saal ist voller Journalisten. Nach und nach schlurfen die Neuparlamentarier herein, ausschließlich junge Männer. Es dominieren Jeans, Pferdeschwänze, Bärte, Brillen und übernächtigte Augen. Die Fraktion ist nicht vollzählig. Der Erfolg kam zu überraschend, und die Nacht im Ritter Butzke in Kreuzberg war lang. Einer nach dem anderen packt seinen Laptop aus. Die Smartphones wirken wie an die Hände getackert. Von jetzt an wird getwittert, gejabbert, fotografiert, gepostet - nonstop, während jeder Sitzung, auch gern mal mitten im Gespräch.

"Daran wird man sich bei uns gewöhnen müssen", sagt an diesem Morgen einer der Piraten: Christopher Lauer, der sich schnell zum Abgeordneten mit maximalem Bekanntheitsgrad entwickeln wird. Er hält den Journalisten einen Laptop entgegen und feixt. "Sie sehen hier das Internet."

Was an diesem Auftritt ein bisschen demonstrativ und auch ein bisschen trotzig wirkt, erzählt eigentlich alles über den Kern der Partei. Die Berliner Piraten, das sind 14 Männer und eine junge Frau. Bis auf drei sind alle deutlich unter 40 Jahre alt, und fast jeder von ihnen macht was mit IT. Softwareentwickler, Industrieelektroniker, Mathematiker, Physiker - jung, schlau, naturwissenschaftlich gebildet: die Fraktion ist typisch für das Milieu, in dem sich die Partei 2006 gegründet hat.

Wir sind im Internet geboren

Hacker, Nerds, Netzaktivisten bildeten den Kern der Bewegung. Das Internet gehört zum Leben der Piraten. Mayer, 46 Jahre, Softwareunternehmer, glaubt, dass diese Herkunft vor allem die Art zu denken beeinflusst. Hier sammelten sich Menschen, in deren Alltag Problemlösung eine bedeutende Rolle spielt, sagt Mayer mit ruhiger Stimme. Wenn Politik ein Softwareprogramm wäre, dann wären Fehler in diesem Denken Dinge, die passieren, weil etwas quasi falsch programmiert ist. Wenn man das behebt, oder "fixt", wie die Piraten sagen, dann läuft die Maschine. Meinungsbildung, also Politik, gleicht einem technischen Vorgang. Ein Helfer in diesem Prozess ist Liquid Feedback - eine Plattform, auf der jeder ein Meinungsbild zu egal welchem Thema einholen kann. Auf diese Weise bildet sich in der Partei eine Haltung.

Das Internet ist nicht nur politisch, sondern auch menschlich der Halteapparat dieser neuen Politgemeinde. "Wir sind im Internet geboren", sagt der Abgeordnete Martin Delius, "es ist ein Teil von uns." Nicht wenige Piraten, so glaubt Christopher Lauer, haben in ihrer Schul- und Jugendzeit ein Außenseiterschicksal erlitten. Die 26 Jahre alte Piratin und Politologin Julia Schramm schreibt in einem Beitrag für die Wochenzeitung "freitag" in anderer Sache vom "Schulhoftrauma".

Die politische Geschäftsführerin der Bundespartei, Marina Weisband, beschreibt sich in einem Interview mit der "Berliner Zeitung" als Mensch mit Anpassungsschwierigkeiten. Ihren ersten Computer bekam sie mit 13, und er wurde der Hort ihrer sozialen Kontakte. "Es hat mein Leben drastisch verbessert und das Leben vieler Außenseiter, die ich kannte." Sie fand hier in Chats und Foren ihre Freunde, Gleichgesinnte, mit denen sie sich "zum ersten Mal im Leben offen austauschen" konnte. "Ich bin ein Kind des Internets." Randgruppen würden auf diese Weise gestärkt, meint sie. Das Glücksgefühl darüber, Gleichgesinnte gefunden zu haben und gemeinsam die Stimme zu erheben, gehört zu den Bindekräften. "Wir wollen uns darauf besinnen, Piraten zu sein" - solche Appelle kann man dann lesen, wenn in den letzten Monaten irgendwas kritisch wird.

Keiner der 15 hat Erfahrung

Aber wird daraus automatisch eine politische Partei mit der Option auf dauerhaften Erfolg? In den Wochen nach der Wahl startet der Praxistest. Und der ist hart. Keiner der 15 hat Erfahrung, und es gibt unheimlich viele Dinge, die zum ersten Mal gemacht werden müssen. Es gibt keine Fraktionsräume, keine Satzung, keine Mitarbeiter, keine Profis. Dafür aber jede Menge Aufmerksamkeit. Auf 15 Abgeordnete kommen bei den ersten Fraktionssitzungen dreimal so viele Journalisten. Es hagelt Interviewanfragen und Talkshoweinladungen, es melden sich mediokre Politikberater und Leute, die Aussicht auf einen Job wittern.

Wacker versuchen die Neupolitiker, sich nicht verbiegen zu lassen. Sie diskutieren endlos. Sie blicken einander dabei nicht in die Augen, weil jeder seinen Rechner fixiert. Vielleicht ist diese vermittelte Form der Auseinandersetzung - alles wird protokolliert und gestreamt, also auch jeder Konflikt öffentlich und übers Netz ausgetragen - auch ein Grund dafür, dass es manchmal ganz schön ruppig wird.

Wenn, wie gleich zu Beginn, die politischen Ideale von Transparenz und Hierarchiefreiheit auf die Realität treffen. Dann gibt es Zoff: "Bekomme gerade Anruf", twittert die Abgeordnete Susanne Graf am 21. September zornig. "Wahl Fraktionsvorsitz ohne transparente Ankündigung. (...) Wo bin ich denn? CDU?" Hintergrund: ihre Kollegen Andreas Baum und Christopher Lauer, die alphatierchenhafte Aktivitäten an den Tag legen, haben beschlossen für den Fraktionsvorsitz zu kandidieren - ohne vorherige Diskussion.

Alles ist öffentlich

Transparenz ist einer der Schlüsselwerte der Piraten. Wen auch immer man von den Abgeordneten nach seinem wichtigsten Ziel fragt, er nennt diesen Begriff. Alles ist öffentlich. Einer protokolliert die Debatte auf einem "Piratenpad" - ein Instrument, durch das die Debatte übers Netz kommentiert werden kann. In der Fraktionssitzung geht es hoch her. Graf beklagt mangelnde Transparenz. Lauer sagt: "Wir können auch erst Weihnachten wählen." Andere erklären ihrerseits ihre Kandidatur, es gibt eine Debatte, ob man nicht lieber 15 Fraktionsvorsitzende wählt. Dicke Luft. Anderswo beginnen so politische Feindschaften. Bei den Piraten kotzt man sich aus. Spätfolgen? Man wird sehen.

Die Piraten sind harte Auseinandersetzungen gewöhnt. "Bisher funktioniert es", sagt Christopher Lauer. "Wir können damit umgehen." Lauer ist einer, der gerne ganz vorne steht. Er zeigt schnell ein politisches Talent zur Zuspitzung, tritt sicher auf - und ist in der Partei umstritten. Piraten sind empfindlich, wenn jemand sich zu ihrem Aushängeschild machen will. Jeder soll nur für sich selbst sprechen.

Vielleicht sieht man bei dieser Partei aber auch nur deutlich, was andere besser verbergen. Vollmundig haben die Piraten vom Ende der "Hinterzimmerpolitik" gesprochen. Im praktischen Abgeordnetenleben kann es ganz schnell ziemlich anstrengend werden, wenn man dauernd unter Beobachtung steht. Die Piraten merken das - die Hauptstadtpresse stürzt sich auf Protokolle der Sitzungen und zitiert genüsslich daraus, wenn jemand mahnt "etwas nicht vor der Presse" zu diskutieren.

Welche politischen Ziele haben die Piraten eigentlich?

In den ersten Wochen machen sie auch Fehler: In der Öffentlichkeit löst es Irritation aus, dass ein paar Abgeordnete als Erstes zur einer "Spaßreise" nach Island aufbrechen und anschließend verkünden, ihre Server "aus Sorge vor dem deutschen Staat" dort aufstellen zu wollen. Als zwei Piraten ihre Lebensgefährten als Mitarbeiter einstellen, gibt es heftige Debatten in der Partei. Als ein Abgeordneter in Verdacht gerät, berauscht Motorrad gefahren zu sein, schaltet er plötzlich um in den Austernmodus und sagt nichts mehr. Ein anderer stellte ein Foto von sich ins Netz, auf dem er so aussieht, als schnupfe er Kokain. Es ist nur Salz - und natürlich ein gefundenes Fressen für den Boulevard.

Wenn solche Schlagzeilen kommen, dann erinnert man sich an eine bisher unbeantwortete Frage: Welche politischen Ziele haben die Piraten eigentlich? Die Partei hat an vielen Stellen keine Antworten oder fertigen Lösungen zu bieten. Damit haben sie im Wahlkampf sogar gepunktet. "Wir sind die mit den Fragen", hieß ein Plakat. "Ihr seid die mit den Antworten." Das ist ein guter Slogan gegen Politikverdrossenheit - weshalb nicht nur die Kanzlerin am Tag nach der Wahl leicht verschnupft von einer "klassischen Protestpartei" sprach.

Es geht um eine andere Art, Lösungen zu suchen

Aber es scheint wahrscheinlicher, dass die Piraten viel weniger eine Protest-, als eine Prozesspartei sind. Mehr als um fertige Inhalte geht es den Mitgliedern offenkundig um eine andere Art, Lösungen zu suchen. "Es könnte sein, dass Piraten interessierter an Prozessen als an Personen und Ergebnissen sind", sagt Pavel Mayer. "Eine Meinung ist etwas, das sich sehr schnell ändern kann, und für politisches Personal gilt das auch."

Wenn die Prozesse perfekt funktionieren würden, bräuchte man in einer idealen Piratenwelt streng genommen weder Parteien noch Abgeordnete. Die Frage ist nur, wer am Ende schneller ist. Werden die Piraten es schaffen, den Politikbetrieb zu verändern, bevor er sie verändert hat?

Vorerst sind die 15 Neuen selber zum politischen Personal geworden. Die Philosophie der eigenen Ersetzbarkeit prallt auf den harten, arbeitsreichen Alltag. Am Ende des Jahres zeigen sich da erste Risse. Die Fraktion hat sich in Klausur begeben, zwei Mediatoren sind an Bord. Jeder will dem anderen mal sagen, was ihm so stinkt. Die Veranstaltung ist nicht öffentlich.