Politik/Baden-Württemberg: Rainer Pörtner (pö)

Und die anderen Parteien verschlafen diesen Trend?

 

Sie sind jedenfalls nicht in der Lage, diese Dimension zu erkennen. Eine Partei ist immer geprägt durch die Zeit, in der sie entsteht oder die meisten ihrer Mitglieder groß geworden sind. Wir sind die Partei einer neuen Generation, die mit Internet und iPad, mit Twitter und Facebook aufgewachsen ist.

Wenn es um Themen wie Finanzen, Rente oder Gesundheit geht, hört man von Piraten-Politikern häufig die Antwort: "Davon habe ich keine Ahnung, aber ich werde mich einarbeiten." Ist Ihnen diese Ahnungslosigkeit peinlich oder ist sie Programm?

Natürlich könnten wir so tun, als hätten wir für alles schon eine Antwort. Aber unsere Partei ist jung. Wir stehen dazu, dass wir Lücken haben.

Mit neun Prozent der Stimmen ist die Piratenpartei ins Berliner Abgeordnetenhaus eingezogen, aktuelle Umfragen sehen sie im Bund bei sieben Prozent. Wo sehen Sie die Gründe für diesen Überraschungserfolg?

Viele Menschen haben kein Vertrauen mehr in die bisherigen Parlamentsparteien. Die Wahlbeteiligungen nehmen tendenziell ab. Die Piratenpartei tritt an mit dem Anspruch, Politik wieder transparent, nachvollziehbar zu machen. Und wir leben das in unserer Partei auch vor. Deshalb war es in Berlin für viele Wähler eine bewusste Entscheidung für eine andere Politik, und nicht etwa eine Protestwahl, nur um anderen Parteien eins auszuwischen.

In anderen Wahlen kam die Piratenpartei nur auf ein halbes bis zwei Prozent. Sind sie vielleicht nur in dem speziellen Biotop Berlins zu solcher Größe fähig?

Berlin ist eine offene, neugierige Stadt, in der bereitwilliger Neues ausprobiert wird als vielleicht in Stuttgart. In Baden-Württemberg hatten wir 2,1 Prozent bei der Landtagswahl. In einem Flächenland ist Wahlkampf für eine neue Partei sehr viel schwieriger. Aber wenn Fukushima nicht noch viele zu den Grünen gebracht hätte, wären wir vielleicht selbst hier bei drei Prozent gelandet.

Und trotzdem glauben Sie, 2013 in den Bundestag einziehen zu können?

Natürlich, wir wollen in den Bundestag.

Wenn sie das klassische Links-Rechts-Schema der Politik nehmen, wo würden Sie die Piratenpartei darin einordnen?

Am liebsten gar nicht. Dieses Schema ist eindimensional. Wir vertreten eine Sozialpolitik, die eher in der Nähe der SPD ist, aber eine Bürgerrechtspolitik, die nahe der alten FDP-Linie liegt. Wir sind eine sozialliberale Partei. Liberalismus ist die einzige politische Strömung, die dem Menschen die Freiheit lässt, die er eigentlich braucht. Wir wollen keinen behütenden Staat wie die SPD, wir wollen keinen autoritären Staat wie die Union. Deshalb sind wir eine - im ursprünglichen Sinne - liberale Partei. Wir können ja nichts dafür, dass die FDP den Begriff auf reinen Wirtschaftsliberalismus runtergewirtschaftet hat.

Das Internet ist ohne Zweifel wichtig. Aber reicht das, um auf diesem Thema dauerhaft eine ganze Partei zu errichten?

Das Internet revolutioniert unsere Gesellschaft, vergleichbar mit der Erfindung des Buchdrucks oder der industriellen Revolution. Es verändert unsere Arbeit, ja: die gesamte Art, wie wir als Menschen miteinander umgehen. Das ist eine Riesenchance. Im Netz ist es völlig egal, wer man ist, woher man kommt. Es eröffnet den Zugang zu Informationen, auch zu gesellschaftlichen und politischen Diskursen, die früher nur wenigen vorbehalten waren: den Journalisten, Lobbyisten und Politikern. Dies kann den Weg zu einer freieren, demokratischeren Gesellschaft eröffnen. Aber es birgt auch große Gefahren für den Datenschutz, die Freiheitsrechte. Deshalb sind die Piraten sind keine Internet-, sondern eine Grundrechtspartei.

"Den Umgang mit staatlichen Unterlagen vom Kopf auf die Füße stellen"

Und die anderen Parteien verschlafen diesen Trend?

Sie sind jedenfalls nicht in der Lage, diese Dimension zu erkennen. Eine Partei ist immer geprägt durch die Zeit, in der sie entsteht oder die meisten ihrer Mitglieder groß geworden sind. Wir sind die Partei einer neuen Generation, die mit Internet und iPad, mit Twitter und Facebook aufgewachsen ist.

Wenn es um Themen wie Finanzen, Rente oder Gesundheit geht, hört man von Piraten-Politikern häufig die Antwort: "Davon habe ich keine Ahnung, aber ich werde mich einarbeiten." Ist Ihnen diese Ahnungslosigkeit peinlich oder ist sie Programm?

Natürlich könnten wir so tun, als hätten wir für alles schon eine Antwort. Aber unsere Partei ist jung. Wir stehen dazu, dass wir Lücken haben.

Wenn sie für den Bundestag antreten, müssen sie wohl sprechfähig sein.

Wir müssen uns bis dahin thematisch breiter aufstellen, das ist klar. Aber ob wir bis dahin ein Vollprogramm im klassischen Sinne bieten können, wird sich zeigen.

Sie fordern den gläsernen Staat, eine weitestgehende Transparenz auch in der Politik. Wie soll das praktisch aussehen?

Das Wichtigste ist, dass wir den Umgang mit staatlichen Unterlagen vom Kopf auf die Füße stellen. Die erste Frage im Staatsapparat darf nicht mehr sein "Muss ich das öffentlich machen?", sondern "Muss ich das geheim halten?" Und wenn diese Frage nicht mit einem klaren Ja beantwortet wird, muss es öffentlich zugänglich sein. Natürlich gibt es staatliche Kernbereiche, etwa in der Sicherheit, die geheim bleiben müssen. Aber dieser Kern ist klein. Transparenz muss aber auch für Parlamente und Parteien gelten. Wir wollen öffentliche Ausschusssitzungen. Wir wollen, dass alle Parteispenden ausgewiesen werden.

Ist das nicht naiv? Die Grünen haben auch mal so angefangen wie die Piratenpartei, die Fraktionssitzungen waren jedermann zugänglich. Inzwischen sind sie eine ganz normale Partei - hinter weitgehend verschlossenen Türen.

Uns ist schon bewusst, dass häufig in den Sitzungen Fensterreden gehalten werden und die eigentlich wichtigen Gespräche finden auf dem Flur statt. Uns ist jedenfalls wichtig, dass der Meinungsbildungsprozess transparent wird. In Skandinavien gibt es das Modell, Unbeteiligte die Debatten verfolgen und Protokolle veröffentlichen zu lassen - das ist ein durchaus interessanter Versuch.

Der Bürger, sagen Sie, soll nicht nur alle vier, fünf Jahre wählen dürfen, sondern ständig über politische Inhalte mitbestimmen. Wie soll das praktisch aussehen?

Nehmen wir das Beispiel Stuttgart 21: Es wäre kein Problem gewesen, zu Beginn der Planung einen Volksentscheid zu machen. Jetzt kommt das viel zu spät. Die Bürger müssen früher in solche Projekte einbezogen werden, das verbessert die Pläne und erhöht die Akzeptanz der Bauvorhaben. Oder nehmen wir die Euro-Rettung: das ist eine so grundsätzliche Frage, dass darüber nicht der Bundestag, sondern das ganze Volk abstimmen sollte. Wir brauchen insgesamt eine andere Diskussionskultur. Wer heute im Internet einem Ministerium schreibt, bekommt eine vorgestanzte Antwort aus der Pressestelle. Das ist kein Dialog. Die Bürger müssen ernst genommen werden und inhaltlich Einfluss nehmen können.

Erwächst daraus nicht die Gefahr, dass eine kleine, aktive, aber nicht durch Wahl legitimierte Gruppe großen Einfluss bekommt - und damit die repräsentative Demokratie aushöhlt?

Heute werden Abgeordnete durch ihre Partei, durch Lobbyisten, durch Geldspender beeinflusst. Das entspricht wohl auch nicht der reinen Lehre der parlamentarischen Demokratie. Etwas Aufmischung tut da ganz gut.

Die Piraten kommen jung, frech, dynamisch daher - aber Frauen sieht man bei ihnen kaum. Sind Sie frauenfeindlich?

Das sicher nicht. Wir kommen aus der Netzszene. Die war bisher geprägt durch junge Männer. Aber langsam beginnt sich das zu ändern - auch bei den Piraten.

Sebastian Nerz: Tübinger Wurzeln

Politik

Nerz war von 2001 bis 2009 Mitglied der CDU. 2009 trat er in die Piratenpartei ein. Von April 2010 bis Mai 2011 führte er den Landesverband Baden-Württemberg der Piraten. Im Mai 2011 wurde er auf dem Bundesparteitag zum Bundesvorsitzenden gewählt.

Beruf

Nerz wurde 1983 in Reutlingen geboren, legte in Tübingen sein Abitur ab und studierte dort Bioinformatik. Im vergangenen Jahr legte er dort seine Diplomarbeit ab.