Domestizierung männlicher Phantasmen: In Mailand hat die australische Fotografin Emma Summerton den Pirelli-Kalender 2023 vorgestellt. 28 Aufnahmen von 14 weltbekannten Models.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Autos mit leicht bekleideten Frauen waren eigentlich schon immer unter der Würde des Pirelli-Kalenders. Wenn schon ging es um Frauen mit Autos. Und bald waren auch die Autos weg. Die neueste Ausgabe für 2023, die die australische Fotografin Emma Summerton jetzt in Mailand vorgestellt hat, kommt ganz ohne aus. Sie ist mit „Love Letters to the Muse“ betitelt und erinnert in Bildsprache und Stilistik an die allegorischen Darstellungen der klassischen Malerei, auch wenn man es hier nicht mit den neun Musen im mythologischen Sinn zu tun hat, die dem Genie zur Entfaltung seiner Schaffenskraft verhelfen sollten.

 

Wie eine Personifikation der Stärke posiert Lauren Wasser auf ein Schwert gestützt vor den Weiten des Ozeans. „Die Athletin“ ist ihr Bild überschrieben. „Die Schriftstellerin“, Emily Ratajkowski, hält dem Betrachter einen Spiegel entgegen, in dem sich die ikonografischen Traditionen von Eitelkeit, Klugheit – und vor dem Hintergrund eines zerwühlten Bettes wohl auch Wollust – bündeln. Wie festgeklebt lagert Ashley Graham in metallischer Robustheit als „Die Aktivistin“ auf dem Boden. 28 Aufnahmen von 14 weltbekannten Models zeigt der Kalender, darunter außer den genannten He Cong, Cara Delevingne und Bella Hadid.

Unter den Rädern des Sexismus

Seit der ersten Ausgabe des Pirelli Kalenders ist Emma Summerton erst die fünfte Frau, die mit dem Werbegeschenk für besondere Kunden des italienischen Reifenherstellers beauftragt wurde, nach Sarah Moon 1972, Joyce Tenenson 1989, Inez Van Lamsveerde 2007 und Annie Leibovitz in den Jahren 2000 und 2016. Auf Seiten der Models sieht das Verhältnis natürlich anders aus. Doch unter ihnen war beispielsweise auch die 71-jährige italienische Schauspielerin Sophia Loren, die mit wenig mehr als Diamant-Ohrringen posierte.

Von vornherein richtete sich der Kalender nicht auf die Testesteron-klammen Winkel dunkler Spinde. 1964 wurde als erster Pirelli-Fotograf Robert Freeman ausgewählt, eigentlich ein Porträtkünstler, der gerade mit seinen Schwarz-Weiß-Aufnahmen zum Albumcover der Beatles berühmt geworden war. Über die Jahre folgten die berühmtesten Fotografen ihrer Zeit. Die Auflage ist ebenso geheim wie der Mix, aus dem die Reifen gleichen Namens hergestellt werden. Nur eine Runde Ausgesuchter kommt in den Genuss des Besitzes eines dieser Kunstwerke. So war es von Beginn an, und so ist es auch 2023.

Doch bei aller ästhetischen Exorzierung männlicher Phantasmen, wird man auch beim Betrachten der neuesten Ausgabe das Gefühl nicht los, dass die darin umspielte Muse längst selbst unter die Räder der Sexismus-Debatte geraten ist. Ein Wesen, das zu Großem inspiriert: ätherisch, willenlos, einfach nur schön.