Scheinmedikamente haben keine Wirkstoffe, doch sie können helfen. Immer mehr Ärzte erkennen, dass man mit Placebos eine Wirkung erzielen kann.

Stuttgart - Mediziner waren lange Zeit sehr skeptisch: Den Placeboeffekt hielten sie für Humbug. Zuckertabletten oder Salzlösungen oder nur das Auftreten eines Arztes im weißen Kittel sollte Patienten heilen? Diese Heilwirkung wurde in der Ärzteschaft kategorisch abgelehnt. In jüngster Zeit ändert sich dies. Immer mehr Ärzte erkennen, dass man mit Scheinmedikamenten eine Wirkung erzielen kann. Auch der wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer beschäftigt sich mit der Wirkung des Placeboeffekts, wie der Mediziner Stephan Zipfel von der Tübinger Uniklinik beim diesjährigen Ärztekongress berichtete. Und nun denkt man unter Medizinern laut darüber nach, wie man den Placeboeffekt sinnvoll in der Therapie eines Patienten einsetzen kann.

Erstmals beschrieben wurde die geheimnisvolle Selbstheilung mittels der Scheinmedikamente im Zweiten Weltkrieg: Einem amerikanischen Anästhesisten ging das Schmerzmittel Morphin aus, mit dem er verwundete Soldaten behandelte. In seiner Not verabreichte er seinen Patienten eine nicht schädliche, aber auch nicht wirksame Kochsalzlösung. Viele Patienten hatten dennoch weniger Schmerzen. In den fünfziger Jahren veröffentlichte der Arzt seine Beobachtungen in einem angesehenen Medizinjournal und war damit einer der Mitbegründer der Placeboforschung .

Klassischerweise ist ein Placebo ein Scheinmedikament in Form einer Tablette oder Infusion ohne aktiven pharmakologischen Wirkstoff, das äußerlich jedoch nicht von echten Arzneimitteln zu unterscheiden ist. Dabei unterscheide man reine, echte Placebos wie beispielsweise Zuckerpillen oder Kochsalzlösung oder auch Akupunkturnadeln, die nicht eindringen können, erklärte Zipfel. Unter Pseudoplacebos verstehe man echte Medikamente, die aber nicht wirken können, weil sie beispielsweise zu niedrig dosiert werden. Den Effekt durch Medikamente könne man noch ausweiten: Auch die Erwartung des Arztes und des Patienten spielen eine Rolle, ebenso wie das Behandlungsumfeld, weiß Zipfel aus seinen Forschungsarbeiten an der Tübinger Uniklinik.

Die Erwartungshaltung der Patienten spielt eine große Rolle


Im Labor wird der Placeboeffekt wissenschaftlich untersucht. Der Placebo wirkt zum einen als Reflex, zum anderen in der Erwartungshaltung des Patienten. Der Reflex, die sogenannte klassische Konditionierung, geht auf die historischen Untersuchungen des russischen Physiologen Iwan Petrowitsch Pawlow zurück. Er hatte beobachtet, dass Hunde beim Anblick von Futter zu speicheln beginnen. Kombiniert man das Futter mit einem schrillen Ton, so reicht bereits kurze Zeit später der schrille Ton und die Hunde sabbern auch ohne das leckere Futter. Nach einem ganz ähnlichen Prinzip funktioniert auch die Konditionierung mit Placebo.

Im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie beispielsweise bekommen gesunde Versuchspersonen viermal hintereinander im Abstand von 12 Stunden ein ihnen unbekanntes grünes Getränk. Es riecht stark nach Lavendel, schmeckt nach Erdbeeren und ist grün. Das Getränk hat keinerlei Wirkung. Dazu nehmen die Probanden jeweils zwei Tabletten Cyclosporin A. Dieses stark wirksame Medikament unterdrückt das Immunsystem, beispielsweise nach Organtransplantationen. Nach einigen Tagen Pause beginnt die nächste Runde des Versuchs: Wieder bekommen die Probanden das grüne Getränk und dazu zwei Kapseln des vermeintlichen Medikaments. Diesmal enthalten die Kapseln aber kein Cyclosporin, sondern ein wirkstofffreies Placebo. Vor und nach jeder Versuchsrunde wird den Probanden Blut abgenommen und die Immunfaktoren Interferon und Interleukin werden bestimmt. Das Ergebnis ist in der Tat beeindruckend: Die Immunfaktoren sind durch das Placebo fast genauso stark reduziert wie durch das Medikament Cyclosporin A. Was wiederum bedeutet: Die grüne Flüssigkeit hat die Wirkung des Medikaments übernommen.

Auch die Erwartungshaltung wird im Labor untersucht: Bekommen Patienten das Schmerzmittel Morphium zuerst von einem Arzt in voller Montur mit weißem Kittel, Stethoskop und imposantem Namensschild gespritzt, reagieren sie darauf. Wird die gleiche Menge Morphium von einem Roboter verabreicht, verliert das Morphium dagegen sehr viel von seinem schmerzstillenden Effekt.

Es gibt zudem viele verschiedene Faktoren, die eine Placebowirkung modulieren. So ist zum Beispiel erwiesen, dass Farbe, Größe und Form der Tabletten eine Rolle bei der Wirkung spielen. Die Farben rot, gelb und orange wirken stimulierend, blau und grün machen eher ruhig. Auch der Preis hat einen Einfluss. Teure Medikamente wirken demnach besser als billige.

Kaum ein Arzt gibt zu, den Placeboeffekt zu nutzen


Von solchen Experimenten weiß man: Der Placeboeffekt ist kein Hokuspokus, sondern ein nachweisbares Ereignis im Gehirn. Dabei werden verschiedene Botenstoffe in unterschiedlichen Hirnarealen freigesetzt, die Effekte im ganzen Körper auslösen können. Wie dieses komplizierte Zusammenspiel funktioniert, muss jedoch noch genauer untersucht werden.

Daher wird nun mittlerweile offen darüber diskutiert, ob und wie man den Placeboeffekt in der Schulmedizin einsetzen kann. So folgert etwa das Deutsche Ärzteblatt in einem Übersichtsartikel: "Die einer Placebogabe zugrunde liegenden Mechanismen, mit denen bei wenig Aufwand positive Zusatzeffekte erzielt werden können, sollten auch bei der Verabreichung von pharmakologisch wirksamen Medikamenten bewusst eingesetzt werden."

Bereits jetzt, so weiß Zipfel, nutzen Mediziner den Placeboeffekt, obwohl es kaum jemand offen zugeben würde. Eine Umfrage in der Schweiz beispielsweise habe ergeben, dass 57 Prozent der Mediziner den unreinen Placebo einsetzen: Sie verordnen eine Dosis, die gar nicht wirken kann. 17 Prozent gaben an, den reinen Placebo, also ein Scheinmedikament, zu verabreichen. Doch das hält Zipfel für ethisch fragwürdig: "Darf man einen Patienten täuschen, frei nach dem Motto, wer heilt, hat recht?", fragte er seine Kollegen beim Ärztekongress. Und plädierte anschließend dafür, den Patienten aufzuklären - gerade auch über die Wirkung von Placebos.