„Wozu leben wir?“ – Während des Evangelischen Kirchentags will die Kulturregion mit einer Plakataktion zu Denken geben.

Stuttgart - Draußen hängt der Nebel tief über Weilheim an der Teck, so tief, dass selbst der nahe Albtrauf nicht mehr zu erkennen ist. Drinnen in dem schmucken Einfamilienhaus bollert ein Feuer im Ofen – und ein Gastgeber erzählt aus seinem Leben, dass es einem warm wird ums Herz und sich der Horizont weitet. Der Hausherr Said Amiri wurde vor 77 Jahren in Kabul geboren, im Sommer 1963 kam er nach Deutschland. Er arbeitete als Schlosser, bildete sich weiter und war Exportmanager der Weilheimer Landmaschinenfabrik Rau. Seit Mai 1979 hat Amiri die deutsche Staatsbürgerschaft. Und mittlerweile engagiert er sich ehrenamtlich im Integrationsausschuss der Stadt Kirchheim und im Arbeitskreis Asyl.

 

Es ist ein Leben im Zeitraffer, das Said Amiri vor vier Studierenden der Stuttgarter Kunstakademie ausbreitet. Der „Schwabghane“ (Amiri über Amiri) ist einer von siebzehn historischen und zeitgenössischen Protagonisten, die von der Kulturregion und ihren Partnerkommunen ausgeguckt wurden und die von Ende Mai an siebzehn Tage lang während des Evangelischen Kirchentages in Stuttgart auf rund 600 Großflächentafeln und auf Infobildschirmen in der Stadtbahn präsentiert werden. „Inspiration“ steht als Titel über der Kampagne, die den kulturellen Reichtum im Ballungsraum am Neckar anschaulich machen und zugleich identifikationsstiftend wirken soll in einer Region mit rund drei Millionen Einwohnern.

Aus einer Liste von ursprünglich mehr als 100 bekannten und unbekannten, zeitgenössischen und historischen Persönlichkeiten wurde unter anderem Amiri ausgewählt, aber auch Schiller, Bosch und Daimler, der Stararchitekt Werner Sobek und der Designguru Hartmut Esslinger, die Forscherin Anja-Tatjana Braun vom Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung und der Waiblinger Instrumentenbauer Bernd Moosmann, der seine Fagotte an die besten Musiker und Orchester in aller Welt verkauft. Auch dabei: die Ingenieurin Marita Raschke, die keramische Beschichtungen für Gelenkprothesen entwickelt, und die Gymnastin Rana Tokmak, die mit dem deutschen Team zu Olympia 2016 nach Rio will.

Was treibt die Menschen an?

Kunst- und Designstudierende verschiedener Hochschulen aus der Region – von der Kunstakademie über die Lazi-Akademie in Esslingen bis hin zur Merz-Schule – wurden beauftragt, sich mit den Vordenkern auseinanderzusetzen und die Plakate für die Kampagne zu gestalten. Bei den Zeitgenossen erfolgte die Annäherung über direkte Gespräche. Und immer ging es darum zu ergründen, was diese Menschen unabhängig von ihrer Profession beseelt und antreibt, was sie glauben und hoffen und fürchten – und dies am Ende des Prozesses auf einen einzigen Sinnspruch, einen Gedanken, eine Idee zu destillieren.

Bernd Moosmann sitzt in seinem Büro im Waiblinger Industriegebiet zusammen mit Larissa Fessl und Alper Uzak von der Macromediahochschule Stuttgart, die den gelernten Instrumentenmacher zu ergründen versuchen. Über seinen Vater ist Moosmann, Jahrgang 1957, zu seinem Beruf gekommen, der ihm – das wird rasch klar – Berufung ist. Speziell das Fagott, ein komplexes Konstrukt aus langjährig abgelagertem Ahorn, extra versilberten Klappen und titanbeschichteten S-Bögen, hat es ihm angetan. Es entsteht in aufwendiger Handarbeit in der hauseigenen Werkstatt. Seine Instrumente genießen Weltruf, doch der Meister selbst ist zutiefst bodenständig, sympathisch – und ohne Allüren.

Der Firmenchef tourt regelmäßig rund um den Globus, um seine Instrumente persönlich zu vermarkten, wie er erzählt. Er genießt es, sich in New York oder Moskau mit Musikern und Dirigenten auszutauschen. „Wo die Sprache aufhört, fängt die Musik an“, sagt er. Seine Heimat aber, sein Lebensmittelpunkt, ist und bleibt das Remstal – und es versteht sich von selbst, dass er auch selbst musikalisch aktiv ist: als Mitglied im Sinfonischen Blasorchester des Städtischen Orchesters Waiblingen.

Verbindung aus Tradition und Moderne

All dies nimmt Larissa Fessl mit für ihren Plakatentwurf, den die Jury am Ende auswählen wird, um im Frühsommer in der Region ausgestellt zu werden. Sie zeichnet eine Seitenansicht von Moosmann und illustriert den Hintergrund mit einem Muster aus, ja klar, Fagotten. „Man kann auch auf traditionellem Gebiet aktuell sein“, hat sich in diesem Fall als Leitmotiv herauskristallisiert. Und wie eine Verbindung aus Tradition und Moderne wirkt auch Larissa Fessls Werk. Der gelb-blaue Grundton war vorgegeben, entwickelt von Studierenden der Kunstakademie, um bei der Kampagne einen Wiedererkennungseffekt zu garantieren. Da hat sich mancher Student zunächst eingeschränkt gefühlt in seiner Freiheit. Am Ende aber hat sich gezeigt, dass die Fantasie dadurch eher beflügelt wurde – und ganz unterschiedlich anmutende Poster zustande kamen.

Dichter und Denker, Kreative und Unternehmer werden in den Mittelpunkt gestellt – ebenso wie die junge Forscherin Anja-Tatjana Braun, die, Jahrgang 1985, am renommierten Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung als Projektleiterin arbeitet. Sie, die zunächst die Realschule absolviert und dann erst die wissenschaftliche Karriere eingeschlagen hat, ist ein Beispiel dafür, was sich durch Klugheit, Hartnäckigkeit und Fleiß erreichen lässt. Anja Braun sucht nach Modellen, wie es gelingen kann, in Wirtschaft und Industrie Anreize für eine echte Kreislaufwirtschaft zu schaffen. „Es reicht nicht, die Dinge perfekt zu machen“, sagt sie. „Es müssen auch die richtigen sein.“

„Neue kreative Allianzen im Spannungsfeld zwischen Kunst, Wirtschaft und Wissenschaft“ – das mache den Reiz der Aktion aus, befindet Magdalen Pirzer, die Geschäftsführerin der Kulturregion. Die Plakate werden an Stellen, an denen sich normalerweise klassische Werbebotschaften versenden, Weltanschauungen „faszinierender Persönlichkeiten“ in den Fokus rücken – an geistiger Anregung für das Publikum wird dann, das zeigt sich jetzt, da die Arbeiten fertig sind, kein Mangel sein.

Akt der Befreiung

Bei den historischen Persönlichkeiten erfolgte der Zugang über Filme, Bücher und Interviews mit Biografen. Beispiel: Margarete Steiff. Die Studentinnen Cathrine Dersch und Anne Kronenberg waren, wie sie erzählen, „von Anfang an fasziniert“ von der Unternehmerin aus Giengen an der Brenz, die sich von den fat alen Folgen einer Kinderlähmung nie hat behindern lassen. Das in Schwarz gehaltene, stilisierte Porträt der Schneiderin ist auf dem Entwurf der angehenden Grafikerinnen unterlegt mit einem Schnittmuster samt jenem Plüschelefanten, der den Anfang der Steiff’schen Stofftierproduktion bildete. Der Teddy, der heute sinnbildhaft für die Firma steht, dient als Sprechblase. „Denn das unnütze Streben nach Heilung lässt den Menschen nicht zur Ruhe kommen“, steht als Spruch über allem: eine Anleitung dafür, mit dem eigenen Schicksal nicht zu hadern, sondern es an- und in die Hand zu nehmen.

Das könnte auch ein Motto sein für Said Amiri, der heute Flüchtlinge berät und früher selbst Flüchtling war. In einer Region, in der bereits sehr viele Menschen leben, die nicht hier geboren sind, und die angewiesen sein wird auf weitere Migranten, verkörpert Amiri geglückte Integration und ehrenamtliches Engagement gleichermaßen. „Meine Heimat ist hier“, sagt er.

„Wozu leben wir, wenn wir nicht frei denken, frei sprechen und frei handeln können?“ Dieser Satz steht auf dem Plakat der Kunststudenten, die Amiris Porträt aus einem Drahtzaun wachsen lassen – ein Akt der Befreiung, ein Ende der Grenzen.