Mit seiner Playlist löst Barack Obama alljährlich Trends aus. Jetzt überrascht Winfried Kretschmann mit der Vielfalt seiner Toptitel. Für den Ministerpräsidenten begann die Rebellion mit Jazz und der Rockband Powerplay. Auch Punk erscheint in seiner Auswahl.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Musikfans weltweit erwarten Jahr für Jahr die Playlist von Barack Obama mit Spannung. Denn da sind meist tolle Tipps abseits des Mainstreams drin. „Ein klein bisschen von allem“, so hat der 44. Präsident der USA jetzt auf Twitter verraten, hat er im vergangenen Jahr gehört. Diversität für die Ohren: Seine Best Songs reichen von der Indiepop-Sängerin Mitski („The only Heartbreaker“) bis zu afrikanischer Wüstenmusik von Mdou Moctar („Tala Tannam“). Die Genannten können sich freuen: Was der 60-jährige US-Demokrat empfiehlt, wird in vielen Fällen rasch zum Verkaufsrenner.

 

Und was hört Winfried Kretschmann? Bisher galt der Ministerpräsident nicht unbedingt als Trendsetter in Sachen Musik. Mit seiner Playlist, die der Grüne erstmals für die „Neue Zeitschrift für Musik“ preisgibt, verrät der 73-jährige Regierungschef, wie sehr ihn Jazz, Rock, Beat und die Oper geprägt haben oder noch heute prägen. Sogar für Punk im Staatstheater mit deftigen Erotikszenen schwärmt er!

Als junger Mann gehörte er zum Umfeld der Rockband Powerplay

Wenn jemand seine Favoritenliste veröffentlich, gewährt er tiefe Einblicke in seine Gefühls- und Gedankenwelt. Eher hart hat’s bei Kretschmann angefangen. Als junger Mann gehörte er zum Umfeld der Riedlinger Rockband Powerplay. „Das Bemerkenswerte war, dass Jugendliche einfach solche Bands gründeten, dass sie sich Instrumente besorgten und darauf zu spielen gelernt haben“, erinnert sich der MP, „das zeigt etwas von der kulturellen Kraft dieser Musik.“ Man könne die 68er-Rebellion als eine „musikinspirierte Bewegung begreifen, die viel breiter war als der enge Kreis politisch Aktiver“, so wird der Grüne in der Musikzeitschrift zitiert, die in Mainz erscheint, „es war eine durch Musik imprägnierte kulturelle Aufmüpfigkeit, die die Gesellschaft verändert hat.“

Dass der Ministerpräsident Fragen zu seinen musikalischen Vorlieben beantwortet hat, verdankt die Zeitschrift dem Journalisten, der ihn um die Playlist gebeten hat. Sein Name: Christoph Wagner. Ein alter Gefährte von Kretschmann ist’s. In den Gründungsjahren der Grünen sind die beiden oft zu zweit zu Parteitagen gefahren. Der Ältere ist 1948 in Spaichingen geboren und in der Politik immer weiter aufgestiegen. Der Jüngere, 1956 in Balingen geboren, gilt als profunder Kenner der heimischen Musikszene, ist für Fachzeitschriften sowie für Radiosender tätig und schreibt erfolgreiche Musikbücher. Politisch mögen sie sich damals in den 1980ern einig gewesen sein – was die Musik anging, trennten sie aber Welten.

Kretschmann spielte Posaune in der Stadtkapelle Riedlingen

„Der Winfried wollte im Auto Marschmusik hören“, erzählte Autor Wagner im Theaterhaus, als er sein Buch „Träume aus dem Untergrund – Als Beatfans, Hippies und Folkfreaks Baden-Württemberg aufmischten“ (erschienen im Silberburg-Verlag) vorstellte. Wagner liebte Rock und Beat, was Kretschmann auf Reisen aber nicht hören wollte. In dem kleinen Auto ist heftig um die Soundhoheit gerungen worden. Der Streit endete meist mit einem Kompromiss. Auf den Autobahnen lief keine Musik.

Dabei war es keineswegs Marschmusik, die das politische Erwachen des Regierungschefs beeinflusst hat. In seiner Playlist ganz oben steht Kid Ory mit „Ory’s Creole Trombone“. Dazu sagt der MP: „Mein älterer Bruder hatte einen Plattenspieler und Jazzplatten. Die wurden von meinen Eltern nicht gerade geschätzt, aber mein Vater war liberal genug, uns gewähren zu lassen. Die Rebellion hat für mich mit dem Jazz begonnen. Die Qualität von Kid Orys Posaunenspiel ist ungeheuer. Ich habe in der Stadtkapelle in Riedlingen Posaune gespielt, aber dieses Stück war weit über meinen Möglichkeiten.“ Auch Blasmusik hat es in Kretschmanns Playlist geschafft – nämlich „die Stadtkapelle Riedlingen auf der Wirtshausfasnet“.

Zu seinen Favoriten zählt „Take Five“ von Dave Brubeck

Bis heute seien Musikvereine, erklärt der Grüne, „eine tragende Stütze der Kultur auf dem Land“. Sie seien wichtig, „weil dort Menschen aus eigenem Antrieb tätig werden“. Dies habe nichts mit Vereinsmeierei zu tun, sondern sei „Bestandteil einer Zivilgesellschaft, die aktiv ist, Initiativen entwickelt, im praktischen und kulturellen Sinne“.

Weitere Lieblingsstücke des Ministerpräsidenten sind: „Take Five“ von Dave Brubeck, „A Hard Day’s Night“ von den Beatles, „Jacques Loussier plays Bach“, Academy of Ancient Music mit „Händel – Messiah“, Wolfgang Rihm mit „Requiem Strophen“, der „Freischütz“ von Carl Maria von Weber.

Seine Frau Gerlinde Kretschmann hat ihn zur Oper „einfach reingeschleppt“

Natürlich fehlt die Stuttgarter Staatsoper nicht, die er regelmäßig besucht. Seine Favoriten im Opernhaus unweit des Landtags sind „Die Zauberflöte“ sowie „Die Sieben Todsünden“ (Kurt Weill/Bert Brecht) in der Inszenierung von Elektro-Punk-Sängerin Peaches. Hochkultur trifft auf Underground. Bei diesem deftigen Vergnügen im Staatstheater geht’s um unangepasste Sexualität.

So wie der MP durch den Bruder zum Jazz kam, kam er durch seine Ehefrau Gerlinde Kretschmann zur Oper, verrät er: „Sie hat mich einfach mal reingeschleppt.“ Dafür ist ihr heute ihr Mann, der mit Rock, Jazz und Blasmusik musikalisch sozialisiert worden ist, sehr dankbar. Mehrmals im Jahr besucht er die Stuttgarter Oper. „Trotz übervollem Terminkalender nehme ich mir die Zeit.“ Heute sei die Oper „das Genre, bei dem ich mich musikalisch am wohlsten fühle“.

Obama sorgt mit seiner Playlist stets für Umsatzsprünge bei Musikerinnen und Musiker, die er empfiehlt. Die Stuttgarter Oper hat es verdient, von noch mehr Menschen geliebt zu werden. Denn sie schafft es immer wieder, Musikfans zu überraschen.