Vorsitzende Richterin und Vize-Aufsichtsratschefin bei einem Unternehmen – passt das zusammen? Nach Kritik an der Doppelrolle gibt die Juristin Carola Wittig den Stellvertreterposten bei Datagroup auf.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Nach Kritik an ihrer Doppelrolle hat eine Vorsitzende Richterin am Landgericht Stuttgart den stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitz beim IT-Unternehmen Datagroup abgegeben. Die promovierte Juristin Carola Wittig ist bei der in Pliezhausen im Kreis Reutlingen ansässigen Aktiengesellschaft nach europäischem Recht (SE) nun nur noch einfaches Mitglied des Kontrollgremiums. Eine Sprecherin von Datagroup teilte unserer Zeitung mit, Wittig habe das nach ihrer Wahl in den Aufsichtsrat im Jahr 2016 übernommene Amt als Vize-Chefaufseherin „aus freien Stücken“ niedergelegt. Dies sei bereits am 23. Juli erfolgt, wenige Tage nach einer Antwort des Unternehmens auf eine StZ-Anfrage. Auch beim Landgericht hieß es, die Richterin habe das Amt „von sich aus“ abgegeben.

 

Indirekt bestätigte ein Gerichtssprecher, dass Wittig (Jahrgang 1962) gar keine Genehmigung für die Tätigkeit als stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende hatte. Die frühere Präsidentin des Landgerichts und heutige Chefin des Oberlandesgerichts (OLG) Stuttgart, Cornelia Horz, habe ihr nur „den Beisitz im Aufsichtsrat der Datagroup als Nebentätigkeit genehmigt“. Ein Antrag für die Übernahme des Vizepostens sei dem Gericht gar nicht vorgelegen; daher habe man die Vereinbarkeit des Richteramtes mit dem stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitz nicht geprüft. Unbeantwortet ließ der Sprecher die Frage, ob es Konsequenzen habe, wenn die Richterin das Amt ohne Genehmigung ausgeübt habe. Wittig selbst äußerte sich nicht zu dem Vorgang; sie ließ auch die Frage offen, ob ihr Rückzug als Eingeständnis einer Unvereinbarkeit der beiden Ämter zu werten sei.

Kläger kann sich in Kritik bestätigt sehen

Auch Datagroup wollte nichts zu „richterlichen Angelegenheiten“ sagen. In einer ersten Stellungnahme hatte das Unternehmen betont: „Die Vereinbarkeit mit dem Richteramt ergibt sich für uns aus der Genehmigung der Aufsichtsratstätigkeit durch die Präsidentin des Landgerichts.“ Damit blieb unklar, ob der an der Börse notierten Aktiengesellschaft bekannt war, dass die Erlaubnis nur für die Tätigkeit als einfaches Aufsichtsratsmitglied galt. Nach Angaben von Datagroup war Wittig im Zuge eines Auswahlverfahrens von einer Frankfurter Personalberatung empfohlen worden. Sie sei der Hauptversammlung 2016 zur Wahl vorgeschlagen worden, die sie auch wählte. Neuer stellvertretender Vizechef des Kontrollgremiums sei Helmut Mahler, der bisher als einfaches Mitglied firmierte.

Durch den Rückzug Wittigs kann sich der Kläger in einem Zivilverfahren bestätigt sehen, der auf die Doppelrolle aufmerksam geworden war. Nachdem die Richterin seine Klage gegen eine IT-Firma aus Korntal-Münchingen, ihm mehr als 500 Überstunden zu bezahlen, für ihn überraschend zurückgewiesen hatte, befasste er sich näher mit ihrer Person. In der Tätigkeit für Datagroup sah er einen möglichen Interessenkonflikt, da es erklärtes Ziel der Pliezhausener sei, kleinere Unternehmen aus der Branche zu übernehmen und einzugliedern; ein solches Übernahmeziel könne auch die von ihm verklagte Firma sein.

Eintrag auf der Homepage geändert

Der Anwalt des Klägers, Frank Thiele aus Köln, hält das Richteramt grundsätzlich für unvereinbar mit dem (Vize-)Vorsitz im Aufsichtsrat. Er verweist auf eine Entscheidung des nordrhein-westfälischen Oberverwaltungsgerichts in Münster, das sich vor Jahren mit einem Richter befasste, der Chefkontrolleur eines kommunalen Unternehmens war. Darin heißt es allgemein, das Amt vertrage sich „prinzipiell nicht mit dem durch Neutralität und Zurückhaltung – auch außerhalb des Dienstes – geprägten Richterbild der Verfassung“. Das Aktienrecht verpflichte Aufsichtsratsvorsitzende schließlich, die Interessen des Unternehmens zu vertreten; zudem prägten sie auch dessen Außendarstellung. Durch die Doppelrolle leide daher das Vertrauen in eine „prinzipiell unbefangene und unbeeinträchtigte Entscheidungsfindung“. Das Landgericht hatte mitgeteilt, man kenne das Urteil, bewerte es aber nicht. Thiele legt Wert auf die Feststellung, dass er nicht von sich aus an die Öffentlichkeit gegangen sei, sondern im Auftrag seines Mandanten nur Zitate aus der Begründung der Berufung bestätigt habe. Der Fall ist derzeit beim OLG anhängig, der Kläger will ihn gegebenenfalls bis vor den Bundesgerichtshof tragen.

Die drei Aufsichtsräte von Datagroup erhalten nach dem jüngsten Geschäftsbericht zusammen jährlich 80 000 Euro als Vergütung; hinzu kommt ein vierstelliges Sitzungsgeld. Nähere Angaben zur Verteilung machte das Unternehmen nicht. Die ursprünglichen Angaben zur Person Wittigs auf der Datagroup-Homepage wurden inzwischen geändert. Früher hatte es dort geheißen, sie sei beim Landgericht einst Vize-Vorsitzende „einer für IT-Verträge spezialzuständigen Zivilkammer“ gewesen; zudem habe sie sich als Staatsanwältin bei der Wirtschaftsabteilung mit Steuerstraftaten befasst und eine Ermittlungsgruppe für Insolvenzdelikte geleitet. Heute wird ihre Justizkarriere nur noch kurz erwähnt. Stärker abgehoben wird dafür auf ihre Tätigkeit als Dozentin in der Fortbildung von Fachanwälten, Ingenieuren und Sachverständigen und auf ihre früheren Erfahrungen als Rechtsanwältin. Der Hinweis auf die Spezialkammer beim Landgericht wurde ersetzt durch einen Passus, in dem allgemein von „Erfahrungen im IT-Vertragswesen“ die Rede ist.

Die Datagroup SE

Die Datagroup SE mit Sitz in Pliezhausen ist nach eigenen Angaben „einer der führenden deutschen IT-Dienstleister“. Für das Unternehmen sind bundesweit 2000 Mitarbeiter tätig. Sie erwirtschafteten zuletzt einen Umsatz von mehr als 220 Millionen Euro. Bundesweit werden mehr als 600 000 IT-Arbeitsplätze betreut, vorrangig in Wirtschaft und Verwaltung. Durch die Übernahme von Firmen aus der Branche wächst die börsennotierte Aktiengesellschaft kontinuierlich.

Auch die Justiz im Südwesten setzt auf Datagroup. Bei der Rückverstaatlichung der Bewährungshilfe im Jahr 2016 gewann die Firma ein europaweites Vergabeverfahren. Beauftragt wurde sie mit der Übertragung der Daten vom vormaligen Träger und mit der Bürokommunikation für vier Jahre. Seit 2015 ist Datagroup zudem für die Bürokommunikation bei Gerichten und Justizbehörden in Baden-Württemberg zuständig. Als Subunternehmer wurden die Pliezhausener zunächst von einem privaten Unternehmen und dann von der Landesoberbehörde BITBW beauftragt.