Im Stuttgarter Pressehaus tauschen Techniker Marius Pflüger und der Münchner Ethiker Arne Manzeschke mit dem interessierten Publikum Argumente aus: Kann die Technik älteren Menschen helfen?

Stuttgart - Technik umfasst und prägt unser ganzes Leben – und zwar von Anfang bis zum Ende. Wobei wir das medizinische Equipment auf Geburtsstationen am Anfang und möglicherweise auf Intensivstationen am Ende einmal außen vor lassen. Es geht um die vielen nützlichen Dinge, die unser Leben bereichern, erleichtern und vereinfachen, auch im Alter. Doch Technik hat wie eine Medaille zwei Seiten: „Auf der einen Seite löst Technik ein Problem. Auf der anderen Seite wirft sie neue Fragen und Probleme auf”, sagt Arne Manzeschke auf der Gesprächsrunde „Oma allein zu Hause – macht Technik ihr Leben sicherer?“ im Pressehaus Stuttgart. Der Theologe und Philosoph der Ludwig-Maximilians-Universität München gibt auch gleich ein Beispiel: Hightech im Krankenhaus rettet Leben. Doch was passiert, wenn Krankenpfleger und Ärzte mehr auf die Maschinen achten als auf den Menschen? Die sozialen Beziehungen leiden.

 

Nun steht die Gesellschaft vor großen demografischen Umwälzungen: Die Menschen werden älter, sind länger krank und auch dement, beschreibt der Moderator des Gesprächs, Michael Trauthig aus dem Politikressort der Stuttgarter Zeitung, die Situation. Zudem sind die personellen und finanziellen Ressourcen der Pflege beschränkt. Da stellt sich automatisch die Frage, welche Rolle die moderne Technik für ein selbstbestimmtes Leben im Alter spielen kann.

Marius Pflüger vom Stuttgarter Fraunhofer Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) hat da ein paar Ideen parat. Der Forscher entwickelt mit Kollegen ein Sensorsystem, das in einer Wohnung eine Notfallsituation erkennen kann. „Solche Notfälle wären etwa Sturz, elektrischer Schlag oder Vergiftung“, erklärt Pflüger. Die Sensorbox ist so groß wie eine Zigarrenschachtel und überwacht aus erhabener Position etwa von einem Schrank das Zimmer. Bewegt sich Oma oder Opa im Raum, kann die Bildverarbeitung dies herausfiltern, ebenso einen Sturz oder ein Hilfe suchendes Winken. Ein Mikrofon nimmt zusätzlich Geräusche oder einen Hilferuf auf. Pro Zimmer sind zwei Sensorboxen nötig, damit die Möbel die Bewegungsdetektion nicht verdecken. Die lückenlose Abdeckung einer Drei-Zimmer-Wohnung betrüge knapp zehn Sensoren. Kostenpunkt 3000 Euro. „Zu kaufen gibt es das System noch nicht“, sagt Pflüger. Eine Serienproduktion würde die Kosten allerdings deutlich senken.

In der Sensorbox bewertet ein Algorithmus kritische Situationen und setzt bei einem Sturz oder Hilfeschrei einen Notruf an eine Zentrale ab oder informiert die Angehörigen. Derzeit läuft ein Pilotversuch in fünf Wohneinheiten der Bruderhausdiakonie in Bad Urach. Die Forscher können dort im Praxistest ihr System verfeinern. Insbesondere gilt es, Fehlalarme zu vermeiden und Notsituationen korrekt zu identifizieren. So fiel bei einem Senior der Rollator um: Das System meldete Alarm. Oder, ein Rollstuhlfahrer stürzte, saß dann aber auf dem Boden: Das System erkannte die Notsituation nicht.

Angesprochen von Moderator Trauthig auf den Datenschutz dieser Kameraüberwachung meinte Pflüger, dass die Bildverarbeitung in der Sensorbox stattfinde. Nach außen ginge ausschließlich das Notrufsignal. Nur zu Forschungs- und Demonstrationszwecken schließt Pflüger einen Bildschirm an: Der Betrachter kann dann sehen, wie die Algorithmen in der Sensorbox arbeiten.

Netzwerk aller Beteiligten aufbauen

„Trotzdem ist man bei solcher Überwachungstechnik zunächst skeptisch, à la ‘Big Brother is watching you’“, sagte Barbara Steiner von der Bruderhausdiakonie. Es gelte, sich ein Netzwerk zwischen Angehörigen, Ehrenamtlichen, Nachbarschaftshilfe und Pflegeprofis zu schaffen, wie und wo diese Technik sinnvoll eingesetzt werden kann. „Diese Technik kann dann ihren Beitrag leisten“, sagte Steiner. Im Herbst will die Bruderhausdiakonie das Projekt auf weitere zehn Wohnungen in Reutlingen ausdehnen.

Solche Gespräche und Netzwerke hält Ethiker Manzeschke für vorbildlich. „Wir müssen uns verständigen, welches Bild wir von einem guten Leben im Alter haben“, sagt Manzeschke. Technik könne da nützen. Die alten Menschen sollten aber durchaus auch nein sagen können. Die Lebensentwürfe und -umstände seien auch äußerst vielfältig. Ein älterer Diskussionsteilnehmer hält beispielsweise mit seinen 600 Kilometer entfernt lebenden Eltern über den Internet-Videodienst Skype engen Kontakt. „Wir reden und sehen uns per Skype“, sagte der Mann und empfahl seinen Zuhörern die Video-Telefonie als probates Mittel, guten Kontakt zu älteren Angehörigen zu halten. Doch nicht jeder ist so technikaffin. Der eine Senior beschäftigt sich noch in hohem Alter mit Tablett-PC und Skype, der andere schafft gerade Fernseher und anderen technischen Schnickschnack ab. Doch damit es nicht zu letzterem kommt, engagiert sich Bodo Kleineidam als Technikbotschafter. Die Böblinger Ingenieur arbeitet ehrenamtlich in einem Netzwerk für Senioren-Internet-Initiativen. „Technik ist eine wichtige Hilfsgröße. Und wir wollen, dass die Senioren ihre Vorbehalte vor dieser Technik verlieren“, sagt Kleineidam.

Häufig seien es chronisch kranke Menschen, die pflegebedürftig werden. „Da kommen wir gar nicht ohne Technik aus“, ergänzt Manzeschke. Doch jede Technik habe auch soziale Implikationen. Dafür müssten die Entwickler dieser Techniken sensibilisiert werden. In Workshops und Studien für das Bundesforschungsministerium untersucht Manzeschke daher Methoden, wie den Technikentwicklern die soziale Dimension ihrer Arbeit vermittelt werden kann. Manzeschke nennt dies „integrierte Forschung“: Schon von Anfang an sollten die Beteiligen – vom Forscher über Pflegepersonal bis hin zu Angehörigen und Betroffenen – miteinander reden. Es laufe, so meint er, eben alles auf die Frage hinaus, wie wir in Zukunft miteinander umgehen und leben wollen.