Eine Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts bedroht die Grundidee der Europäischen Union, auf einem gemeinsamen rechtlichen Fundament zu stehen. Lange hat die Union der Demontage der EU zugesehen, nun will sie reagieren.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Brüssel - Jaroslaw Kaczynski hat eine Mission. Er muss Polen gegen dessen Feinde verteidigen. Die lauern in seinen Augen überall: im eigenen Land in der Opposition, deren Vertreter im Grunde alle zu Seilschaften des verhassten kommunistischen Regimes gehören; in Russland, das Polen nach dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang brutal geknechtet hat; in Deutschland, dessen heimlichem Großmachtstreben auf keinen Fall zu trauen ist, und natürlich in Brüssel, das mit seinen Regeln und Gesetzen die fundamentalen nationalkonservativ-katholischen Werte der polnischen Gesellschaft zerstören will.

 

Die graue Eminenz polnischer Politik

Mit diesem ihm eigenen missionarischen Eifer hat die graue Eminenz der polnischen Politik das Land über Jahre nach eigenem Gutdünken umgebaut. Dabei hatte Kaczynski praktisch freie Hand, denn die Opposition im Land ist zwar ständig empört, aber zersplittert und schwach. Auch der Europäischen Union war dieses autokratische Werkeln am System immer ein Dorn im Auge, doch begnügte man sich in Brüssel mit folgenlosen Mahnungen und legte ansonsten eine außergewöhnliche Langmut an den Tag.

Das Vertrauen in die demokratischen Kräfte in Polen war sehr groß. Schließlich war Warschau lange Zeit mit einer liberalen Regierung der Musterschüler unter den EU-Beitrittsländern. Und zudem hat Polen mit seinem Freiheitskampf Anfang der 80er Jahre den Weg geebnet, der mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Krieges zumindest eine vorläufige Erfüllung fand.

Kaczynski hat das Land unter seiner Kontrolle

Das Warten auf das Einsetzen der demokratischen Selbstheilungskräfte war allerdings vergebens. Jaroslaw Kaczynski hat Polen längst unter seine Kontrolle gebracht. Nun fühlt er sich offensichtlich stark genug, es mit der Europäischen Union aufzunehmen. Das faktisch gleichgeschaltete Verfassungsgericht urteilte am Donnerstag, dass einige Regelungen der Europäischen Union gegen die polnische Verfassung verstoßen. Unter anderem jene, auf Grundlage derer Brüssel und der Europäische Gerichtshof (EuGH) Korrekturen der nationalkonservativen Justizreform verlangt hat.

Kaum war das Urteil gesprochen, setzte eine hitzige Diskussion unter Juristen ein. Das Urteil, so wird argumentiert, sei keine grundsätzliche Entscheidung, dass polnisches Recht generell über dem Recht der Europäischen Union rangiere. Dieser Einwand erscheint allerdings angesichts der politischen Sprengkraft der Entscheidung als eine reichlich akademische Diskussion. „Dieses Urteil bedeutet im Grund, dass Polen die Rechtsordnung der EU verlässt“, findet der grüne Europaabgeordnete Daniel Freund sehr deutliche Worte. „Das Urteil hat historische Ausmaße“, sagt die Vizepräsidentin des Europaparlaments, Katarina Barley (SPD). Polen könne sich damit nach Belieben von den gemeinsam vereinbarten europäischen Regeln verabschieden.

Der lange Weg Osteuropas in die Freiheit

Niederschmetternd an dieser Entwicklung ist, dass gerade die Länder Osteuropas sich ihre Freiheit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion unter großen Qualen erkämpft haben. Die Menschen haben sich für Frieden, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit entschieden – und sind nun wieder auf dem Weg zurück in finstere Zeiten. Doch Jaroslaw Kaczynski schaffte es bisher immer wieder, das Volk hinter sich zu sammeln.

Dabei spielt er auf einer Klaviatur der eher niederen politischen Instinkte. Der Grundton lautet: Der Westen ist moralisch verfallen. Und die Realität scheint dem national-konservativen Scharfmacher immer wieder recht zu geben. Warschau zeigte etwa wenig Mitgefühl nach den Terrorattacken der vergangenen Jahre in Europa. Polen habe richtig gehandelt, keine Migranten ins Land zu lassen, heißt es. Die Politiker in Warschau stilisierten das Land zu einem der letzten Bollwerke gegen die vermeintliche Islamisierung Europas, so wie 1683, als ein Heer unter polnischer Führung vor den Toren Wiens die Osmanen schlug. Das ist ein Narrativ, das in den unzähligen Dörfern in den noch immer sehr ländlichen Regionen des Landes auf fruchtbaren Boden fällt.

Polen bedroht die Einheit der EU

Die eigene Scholle ist den Menschen dort wesentlich näher als die „Grundidee der europäischen Integration“, die nach den Worten des luxemburgischen Außenministers Jean Asselborn durch den Spruch des polnischen Verfassungsgerichtes „kaputt gemacht“ werde. Und dann sagte der ziemlich aufgebrachte Politiker noch den Satz, der selbst die Regierung in Polen aufhorchen lassen wird: Es dürfe kein EU-Geld mehr in Länder fließen, die aus der europäischen Rechtsordnung ausscheren. Seit Wochen hält die Kommission aus diesem Grund 36 Milliarden Euro aus dem Corona-Aufbaufonds zurück. Das ist Geld, auf das die Regierung in Warschau angewiesen ist, denn rechtzeitig vor den Wahlen im Jahr 2023 wollte sie noch einige teure Wohltaten für das Volk vollbringen.

Aus diesem Grund hat Polen beim Europäischen Gerichtshof Einspruch gegen diese Verordnung des Parlaments und des Rats erhoben. Am kommenden Montag beginnt die mündliche Verhandlung, ob die sogenannte Konditionalitätsregelung zum Schutz des EU-Haushalts rechtlich Bestand hat. Das Urteil der Richter ist fundamental für die Europäische Union. Polen hat gezeigt, dass sich die Regierung mit netten Worten nicht von der Demontage der Demokratie abbringen lässt.