Max Weber hat 1919 zeitlose Gedanken über „Politik als Beruf“ festgehalten. Sein Essay verführt zur Frage, wie die Kanzlerin Angela Merkel und ihr Herausforderer Peer Steinbrück daran zu messen sind.

Politik/Baden-Württemberg: Rainer Pörtner (pö)

Stuttgart - Er redete wie üblich frei. Für seinen Vortrag hatte er sich nur acht Zettel zurechtgelegt, auf denen er – in engzeiliger Handschrift – einige Hundert Stichworte notiert hatte. „Mit klangvoller, doch gebändigter Stimme“ trug er vor, wie später einer der aufmerksam lauschenden Studenten vermerkte, „das mächtige Haupt ganz den Zuhörern zugewandt“.

 

Die Gedanken, die Max Weber am Abend des 28. Januar 1919 in der Münchner Buchhandlung Steinicke entwickelte, hat er später zu einem längeren Text ausgearbeitet, der zu einem Klassiker wurde: „Politik als Beruf“. Er entstand in der Gründungsphase der Weimarer Republik und ist geprägt durch den Geist dieser Zeit: dem Übergang aus dem autoritären Kaiserreich in die erste Demokratie auf deutschem Boden. Weber war tief besorgt, ob diese junge Demokratie das notwendige Geschick bei der Auswahl seiner politischen Führer aufbrachte, die es für eine glückliche Zukunft so dringend benötigte.

Jenseits dieses zeitbedingten Fokus stellte Weber zeitlose Gedanken über das Wesen und Wirken des Politikers an, die bis heute nachhallen. Sie machen es zu einer reizvollen Frage, wie sich angesichts der Weber’schen Maßstäbe jene beiden behaupten, die nach der Bundestagswahl im Kanzleramt sitzen wollen: Angela Merkel und ihr Herausforderer Peer Steinbrück.

Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß

Wer sich berufsmäßig der Politik verschreibt, der übt, wie beschränkt auch immer, Macht aus. Er hat Einfluss auf das Leben anderer Menschen, und er lebt – so formuliert es Weber pathetisch – in dem Gefühl, „einen Nervenstrang historisch wichtigen Geschehens mit in Händen zu halten“. Welche Qualitäten sollte solch ein Mensch aufweisen? Weber nannte drei wesentliche Eigenschaften: Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß.

Wer unter Leidenschaft eine das Gemüt völlig ergreifende Emotion versteht, dem dürfte eine gedankliche Verknüpfung mit Merkel schwerfallen. Eine der wesentlichsten Eigenheiten ihrer Amtsführung ist gerade die Unaufgeregtheit, der Mangel an erkennbarer Leidenschaft, die betonte Nüchternheit in Sprache und Handeln. Die assoziative Verknüpfung gelingt im Fall Peer Steinbrück viel leichter. Der Kanzlerkandidat kann sich echauffieren, zeigt politische Emotionen. In seinem konkreten Handeln als Bundesfinanzminister war er zwar ebenfalls ein Mann des kühlen Kalküls, aber anders als Merkel zeigt er doch Lust und Leidenschaft, wenn es um das gesprochene und geschriebene Wort geht. Für einen guten Spruch, eine gelungene Metapher lässt Steinbrück schon mal jede politische Vorsicht fahren.

Nun dachte Weber weniger an solche Oberflächlichkeiten als an Leidenschaft im Sinne von: Hingabe an eine „Sache“. Worin diese „Sache“ bestehe, sei Glaubenssache. Das könnten nationale oder soziale, kulturelle oder religiöse Ziele sein. Im Falle heutiger Politiker dürfte der Maßstab vor allem der Einsatz für die politischen Ziele ihrer jeweiligen Partei sein.

Mal stramm neoliberal, mal kuschelig sozialdemokratisch

Betrachtet man Merkel und Steinbrück durch diese Lupe, so fällt eine Gemeinsamkeit auf: beide Spitzenpolitiker wurden nur selten als Inkarnation ihrer jeweiligen tradierten Parteiideologien wahrgenommen. Dies ist besonders erstaunlich im Fall Merkel, die als Parteivorsitzende seit vielen Jahren jene Stelle besetzt, die gewöhnlich CDU-Programmatik personifiziert. Die in Ostdeutschland aufgewachsene Politikerin wurde mit den christlich-konservativen Seiten ihrer westdeutsch geprägten Partei nie eins. Sie selbst changiert zwischen stramm neoliberal und kuschelig sozialdemokratisch. Gesellschaftliche Veränderungen versucht sie eher nachzuvollziehen, als im Sinne einer parteipolitisch fixierten Idee zu gestalten.

„Ein starkes langsames Bohren von harten Brettern“

Die bis zum Beginn des Wahlkampfes hohe Popularität des SPD-Politikers Steinbrück resultierte gerade daraus, dass er von vielen Bürgern als untypischer Sozialdemokrat wahrgenommen wurde. Als einer, der gesunden Menschenverstand und ökonomisches Fachwissen argumentativ klug gegen rote Sozialromantik vorbringen kann. Insbesondere aus der Reibung mit der SPD-Politik schlug er Funken.

Die „Sache“, der Merkel wie Steinbrück dienen, ist deshalb nicht in erster Linie das Programm ihrer Parteien, sondern ihre ganz eigene, in beiden Fällen sehr bewegliche Interpretation desselben. Beide sind Vertreter eines Regierungspragmatismus, der inhaltliche Flexibilität und Augenmaß mit einem ausgeprägten Sinn für den eigenen Machterhalt verbindet.

Politik, so hat Weber in seinem wohl bekanntesten Satz formuliert, sei „ein starkes langsames Bohren von harten Brettern“. Aber bedeutet das auch ein lebenslanges Bohren, eine alternativlose Hingabe an ein Leben als Berufspolitiker? Steinbrück hatte sich innerlich abgemeldet, als er nach der Wahl 2009 seinen Ministerposten verlor. Er hatte sich einem neuen Leben zugewandt: als Vortragsreisender, als Buchautor, als Aufsichtsratsmitglied. Das Bundestagsmandat, das er behielt, wurde zur Nebensache. War das Mangel an Leidenschaft? Im Sinne des Wählerauftrags gewiss. Andererseits ist ein beruflicher Umstieg nach dreißig, vierzig Jahren in der Politik verständlich. Steinbrücks eigentliches Problem wurzelte deshalb nicht in den Nebentätigkeiten und hohen Honoraren an sich. Niemand hätte sich daran wohl groß gestört, wenn er mit dem Ende der Legislaturperiode aus dem Parlament ausgeschieden wäre. Seine Schwierigkeiten begannen, als er seinen Ausstieg widerrief und Kanzlerkandidat wurde. Nun galten wieder die strengeren moralischen Maßstäbe der Politik, und das Verwunderlichste war, dass Steinbrück selbst allergrößte Mühe hatte, dies zu verstehen.

Muntere Sprüchen über Banker

Aber muss ihm nicht zugutegehalten werden, dass er nur dem Ruf seiner größten Leidenschaft, dem Ruf der Politik erlag, als er sich zum Kandidaten ausrufen ließ? Wenn dies das einzige Motiv gewesen sein sollte, so soll es zählen. Allerdings drängt sich der Eindruck auf, dass Steinbrück zudem einer Fehlperzeption aufsaß. Er hatte den großen Zuspruch, den er als Redner und Schreiber fand, als bare und dauerhaft werthaltige Münze genommen. Wenn er seine Zuhörer mit munteren Sprüchen über Banker, Finanzjongleure und manche seiner sozialdemokratischen Parteifreunde („Heulsusen“) unterhielt, bekam er dafür viel Beifall. Die Sympathien flogen ihm zu, weil er so frei und ungezwungen daherreden konnte, wie es keinem Politiker in einem hohen Staatsamt möglich wäre.

Genauso schnell verfliegen diese Sympathien, wenn einer, der das Spiel locker von der Seitenlinie kommentiert, wieder zurück aufs Feld will und nun auf jene Mitspieler angewiesen ist, die er vorher verspottet hat. Die Zuschauer haben ein feines Sensorium dafür, ob es zwischen Spielmacher und Mannschaft harmoniert oder nicht. Das gilt im Sport wie in der Politik.

Nicht ohne Grund hat Weber „die ganz gemeine Eitelkeit“ als große Gefahr ausgemacht. Nun ist, erkennt er an, die Eitelkeit eine weit verbreitete menschliche Eigenschaft. Und selbst im Übermaß sei sie in vielen beruflichen Sphären wenig schädlich. Ganz anders sei dies allerdings beim Politiker, der letztlich zwei Arten von Todsünden begehen könne: Unsachlichkeit und Verantwortungslosigkeit. Gerade die Eitelkeit, das Bedürfnis, möglichst sichtbar im Vordergrund zu stehen, führte den Politiker in Versuchung, eine oder gar beide dieser Todsünden zu begehen.

Der Satz vom „langsamen Bohren harter Bretter“

Nun wäre es weit übertrieben zu behaupten, Peer Steinbrück werde durch seine Eitelkeit beständig zu Unsachlichkeit und Verantwortungslosigkeit verführt. Es wäre auch anmaßend, von außen bestimmen zu wollen, wer von beiden eitler sei: Steinbrück oder Merkel? Unter jenen allerdings, die bisher im Kanzleramt saßen, darf Merkel als diejenige gelten, die am wenigsten Gewese um sich selbst macht. Ein Mangel an Eitelkeit sollte dabei nie mit einem Mangel an Machtbewusstsein gleichgesetzt werden. Mag es Angela Merkel an Ersterem mangeln, vom Zweiten doch hat sie mehr als genug.

Webers Satz vom „langsamen Bohren harter Bretter“ hat der Soziologe Ralf Dahrendorf, selbst kurzzeitig für die FDP politisch aktiv, als „merkwürdigen Rat“ empfunden: Empfehle Weber damit doch eine bürokratische Politik, der es nicht um große Veränderung geht, sondern darum, „auf einem bereits eingeschlagenen Weg ein kleines Stück weiter zu kommen“. Weit seltener wird der unmittelbar anschließende Gedanke Webers zitiert: dass nämlich das Mögliche oft nicht erreicht worden wäre, „wenn nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen worden wäre“.

Ihnen steht der Sinn nicht nach Visionen

Max Weber war eben nicht nur der Apologet des Rationalen. Politik sollte nicht nur eine Sache des Kopfes und der Politiker nicht nur die Fortsetzung des Beamten mit anderen Mitteln sein. In gewissen Momenten bedürfe es des Visionären und eines Politikers, der den Mantel der Geschichte ergreift – einen politischen Führer. Auch für Weber gab es also, wie Dahrendorf treffend anmerkt, zwei Arten von Politikern: die normalen und die großen Politiker, die Kärrner und die Feldherren.

Presst man sie in diese Schablonen, gehören Merkel wie Steinbrück bis jetzt zur Gruppe der Kärrner. Das schließt nicht aus, dass auch sie den Mantel der Geschichte herzhaft ergreifen, sollte er zufällig in der Nähe sein. Doch beiden, der Christdemokratin noch mehr als dem Sozialdemokraten, steht der Sinn nicht nach Visionen. Sie begreifen Politik als „Stückwerkstechnik“, nicht als Suche nach dem großen Wurf.

Sie sind damit – die Frau aus dem Osten wie der Mann aus dem Westen – prototypische Repräsentanten einer bundesdeutschen Gesellschaft, die in ihrer übergroßen Mehrheit nach den Erfahrungen des letzten Jahrhunderts genug hat von Führern und Feldherren, von Ideologen wie Demagogen.