Die Generation Y schaut kein Fernsehen und findet Politik uncool? Mit ungewöhnlichen Formaten versuchen einige YouTuber, sie für das Weltgeschehen zu interessieren.

Stuttgart - Donald Trump schien im Januar 2016 noch ein einziges großes Missverständnis auf dem Weg ins Weiße Haus zu sein, da sah sich der Amtsinhaber Barack Obama in einem YouTube-Interview mit der Frage konfrontiert, warum Binden und Tampons in 38 US-Staaten als Luxusgüter besteuert werden. Fragenstellerin war die damals 26-jährige Ingrid Nilsen, besser bekannt unter ihrem Künstlernamen Missglamorazzi. Nilsen ist Creator – eine sogenannte YouTube-Künstlerin. Ihren YouTube-Kanal haben vier Millionen Nutzer abonniert. Mit Videos über Make-up, Mode und Lifestyle ist er groß geworden. Mit Bekenntnissen zur gleichgeschlechtlichen Liebe und Appellen an die Frauengesundheitsfürsorge setzt er auch gesellschaftspolitisch relevante Akzente, die Obamas Social-Media-Beratern nicht verborgen blieben.

 

Spektakulär war dieses tief in die weibliche Intimsphäre gehende Interview, live gestreamt aus dem Eastern Room des Weißen Hauses, nur insofern, als Obama auf Nilsens Frage nach der „Tampon Tax“ keine Antwort wusste. Das „Problem“ war ihm schlicht nicht bekannt. Dass er sich von einer Beauty-Vloggerin befragen ließ, war dagegen fast schon normal. Während seiner Präsidentschaft stellte sich Obama regelmäßig den Fragen der Stars aus dem Netz. Als erster US-Präsident überhaupt suchte und förderte er den Dialog. YouTube als Instrument der Politikvermittlung, als Ort der politischen Debatte und direkten Auseinandersetzung mit Politikern ist nicht zuletzt dank Obama akzeptiert.

Auch in Deutschland hat sich YouTube als Plattform der politischen Auseinandersetzung etabliert. Gleichwohl ist schwer vorstellbar, dass die deutsche Beauty-Vloggerin Nihan Sehit den SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz am kommenden Dienstag (5. September, 12 Uhr, www.youtube.com/DeineWahl) live auf YouTube auf die Ungerechtigkeit ansprechen könnte, dass auch hier Tampons höher besteuert werden als beispielsweise Kaviar.

„Machen Sie sonst nur Selbstdarstellung?“

Die Berührungsängste zwischen der hohen Politik und den Creators auf YouTube haben nachgelassen, seit im Juli 2015 der Mega-Star aus dem Netz, LeFloid, auf den Mega-Star der politischen Bühne, Angela Merkel, traf. Das Aufsehen war groß, Dämme schienen gebrochen. Mehr als fünf Millionen Mal ist seither das halbstündige Gespräch geklickt worden, in dem LeFloid Fragen aus seiner Community an Merkel weiterreichte – eine „Traum-Quote“, die die Sommerinterviews bei ARD und ZDF nie erreichen.

In diesem Sommer ließ sich die Kanzlerin zum zweiten Mal auf ein Gespräch mit Youtubern ein, einem Quartett diesmal, zu dem auch „MrWissen2go“ gehörte. Ihre Vorbehalte konnte Merkel indes nicht verhehlen: Als Ischtar Isik, die ähnlich wie Nilsen sonst Tipps rund um Mode und Lifestyle gibt, sich entschuldigte, es sei ihr erstes Interview überhaupt, fragte Merkel: „In Ihrem Leben? Machen Sie sonst nur . . . Selbstdarstellung?“

Die YouTube-Szene in Deutschland übt sich überwiegend in politischem Vegetarismus. Wenn der YouTuber produziert, dann produziert er – in dieser Reihenfolge – Entertainment, Gaming, was über Medien, Hobbys und dann erst Information und Politik. Über die Gründe haben sich viele Webvideo-Experten den Kopf zerbrochen, und sie lassen sich so zusammenfassen: Pranks (altdeutsch: Streiche) und Ekeltests sind Hits mit zig Millionen Zuschauern. Sie sind quasi das quotenstarke Privatfernsehen von YouTube. „Edgy Content“ dagegen, alles was mit Politik und Religion zu tun hat, kommt weniger gut an, schlimmer: kann Werbetreibende abschrecken.

Ausreden lassen – ein völlig neues Polittalk-Konzept

Der mangelnde Coolness-Faktor hält eine kleine Truppe von Digital Natives allerdings nicht ab, auf ihren Kanälen jungen Leuten Politik näherzubringen, und zwar völlig anders, als man es vom klassischen TV gewöhnt ist. Und so finden sich ein paar Nachwuchsjournalisten, die den Israel-Palästina-Konflikt erklären, Regierungssprecher duzen oder Obdachlose mit der Kamera in ihrem Alltag begleiten. Einer von ihnen ist Mirko Drotschmann, besser bekannt als „MrWissen2go“.

Seine Zuschauer auf YouTube sind durchschnittlich 17 Jahre alt und schalten ein, obwohl er über Brexit, Landtagswahlen oder die Eurokrise spricht. Knapp 500 000 Abonnenten hat sich Drotschmann in fünf Jahren erarbeitet, indem er vor einer kahlen Wand steht und mit der Sachlichkeit eines Oberstudienrats Wissenswertes kompakt, kurz und kostenlos vorträgt. „MrWissen2go“ ist damit einer der größten deutschsprachigen Bildungskanäle.

Political YouTubing betreibt auch Tilo Jung. Der ehemalige Reporter von Radio Eins (RBB) gefällt sich in der Rolle als einer der letzten aufrechten, unabhängigen Journalisten. Anfang 2013, da war Jung 27, stellte er erstmals Videos unter dem Namen „Jung & Naiv – Politik für Desinteressierte“ ins Netz. Mehr als 300 Interviews mit Politikern und politisch Versierten jedweder Couleur sind seither zusammengekommen. Es ist ein Konzept, das, hätte es Jung einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt angeboten, niemals angenommen wäre: Nur ein Gast? Ausreden lassen? Bis zu zwei Stunden Sendezeit? Niemals.

Wilde Fragenmischung

Jung will Routinen brechen. Dazu gehört, jeden Gesprächspartner zu duzen und mit einer wilden Fragenmischung zu reizen. Vom Grünen-Urgestein Hans-Christian Ströbele wollte Jung zum Beispiel nicht nur wissen, wie seine Meinung zur Nato aussieht, sondern auch welche Pflegeprodukte er für seine Augenbrauen verwendet. In der Bundespressekonferenz, die Jung seit 2014 regelmäßig besucht und ungekürzt auf YouTube veröffentlicht, werden seine Fragen von den anderen Anwesenden nicht selten mit Augenrollen, Kopfschütteln, Stöhnen quittiert. Trotzdem ist der Novize im Berliner Polit-Geschäft zur Marke geworden.

„poliWHAT?!“, „Stör/Element“ oder „Was Geht Ab?!“ – allesamt Kanäle, die mit Jung und Drotschmann die Politikvermittlungswelle begannen, als es noch relativ leicht war, schnell Reichweite zu erzielen – sind mittlerweile im riesengroßen YouTube-Grab verschwunden. Stattdessen versucht nun ein Player den Journalismus auf YouTube voranzubringen, der das Privileg hat, Erfolg (zumindest in der Theorie) nicht in Klicks messen zu müssen: Funk.

Das Content-Netzwerk von ARD und ZDF ging im Oktober 2016 mit rund vierzig Programmen an den Start. Alles außer Beauty und ziemlich viel Information in verschiedenen Variationen sowie perfekter Bild- und Tonqualität gibt es dort. Der Funk-Chef Florian Hager heuert Kreative an, die in den sozialen Netzwerken bereits eine beträchtliche Fan-Gemeinde haben. Und die schlüpfen offenbar mit Begeisterung in die öffentlich-rechtliche Obhut.

Der Superstar heißt Dner

Die Web-Satiriker des „Bohemian Browser Ballett“, die sich als „linksgrünversiffter Stachel im Arsch der Revolutionäre“ bezeichnen, konnten dank Funk ihr Autorenteam aufstocken („bezahlt aus den fetten Fleischtöpfen der deutschen Zwangsgebühren“). Ihre Satire-Clips schafften es sogar in den hektisch-verkrachten Polit-Talk „Überzeugt uns!“ (ARD) mit Ronja von Rönne und Ingo Zamperoni. Doch keiner wächst so rasant ins journalistische Fach wie der Gaming-Superstar „Dner“, dessen Videos schon eine Milliarde Menschen gesehen haben.

Unter seinem bürgerlichen Namen Felix von der Laden produziert der 22-jährige Premium-Vlogger die öffentlich-rechtliche Reportage-Reihe „follow me.reports“. Vor der US-Wahl schickten ihn die Funker auf Reisen, um herauszufinden, was das junge Amerika denkt. Auch ZDFneo strahlte den Film „Like or Dislike? YouTuber Dner im US-Wahlkampf“ aus. Es sei eine „gelungene Kollaboration von klassischer Fernsehkunst und jungem YouTube-Ungestüm“, lobte „Spiegel Online“ und dass Dner einer jener YouTuber sei, „die einem den Glauben an den Wert der Plattform wiedergeben können“.

Der Text ist ein leicht gekürzter und aktualisierter Auszug aus einem Essay, der im gerade erschienenen „Jahrbuch Fernsehen“, herausgegeben vom Institut für Medien- und Kommunikationspolitik und dem Grimme-Institut, veröffentlicht ist.