Helmut Schmidt und Henry Kissinger sprechen in Hamburg über China - und das Publikum ist entzückt.

Politik/ Baden-Württemberg: Christian Gottschalk (cgo)

Hamburg - Als Lina Che geboren wurde, war Helmut Schmidt schon nicht mehr Bundeskanzler. Die junge Chinesin prüft in Belgien Firmenbilanzen. Sie hat noch nie vom deutschen Altkanzler gehört. Doch als Helmut Schmidt den Saal verlässt, da hat Lina Che Tränen in den Augen – und nicht nur sie. Dieses Gefühl, einem großen Augenblick beigewohnt zu haben, den es wohl nicht mehr allzu oft geben wird, ist in diesem Moment zum Greifen nah. Verstohlen wird in der Hamburger Handelskammer zu Taschentüchern gegriffen.

 

Auch Wang Yanhuan schluchzt – vor Freude. Eigentlich ist Wang als Journalistin angemeldet, doch alle professionelle Zurückhaltung lässt sie fahren, als Henry Kissinger in die Reichweite ihres Smartphones kommt. Keine zehn Sekunden, nachdem der ehemalige US-Außenminister und die Frau aus Guangzhou ihr gemeinsames Händeschütteln fotografiert haben, ist das Bild im Internet und für Freunde in der Heimat zum Kommentieren frei gegeben. Dieser Mann sei ein Idol, sagt die Frau, die sich rühmen kann, einen Trend gesetzt zu haben. Kissingers Abgang gestaltet sich nun jedenfalls ungleich langwieriger als der des Altkanzlers. Aus allen Ecken kommen die Menschen , um sich mit ihm fotografieren zu lassen. Kissinger scheint dies nicht unangenehm zu sein.



Henry Kissinger und Helmut Schmidt, das sind nicht nur zwei große Staatsmänner, nicht nur zwei gute Freunde, es sind auch zwei Männer, die im fortgeschrittenen Alter noch einmal eine heftige Liaison mit dem Reich der Mitte begonnen haben. 2006 hat Schmidt sein Buch „Nachbar China“ veröffentlicht, Kissingers mehr als 600 Seiten starkes China-Epos kam 2011 auf den Markt. Der 89-jährige Kissinger wird sich nicht lange im Ruhm der Aktualität sonnen können. Helmut Schmidt, der kurz vor Weihnachten seinen 94. Geburtstag feiern wird, arbeitet gerade an einem neuen Werk zum Thema. Der Inhalt wird kaum überraschen: Wir sollten nicht besorgt sein wegen China. Schmidt ist ein großer Freund der chinesischen Kultur – und somit einer der besten Werbebotschafter, die sich die Volksrepublik wünschen kann. 30 Jahre nach dem Ende seiner Kanzlerschaft ist er nach einer Umfrage vom Jahresbeginn als der mit Abstand ehrlichste Politiker im Land ausgerufen worden.



Wenn Schmidt erklärt, es sei möglich, dass China noch vor den USA wirksame Medizin gegen Parkinson entwickeln könnte und dass man sich nicht vor militärischen Bedrohungen durch Peking zu fürchten habe, dann hat das Gewicht. Lina Che hat von dieser Umfrage noch nie gehört. Kurz nach dem Auftritt der beiden Staatsmänner auf einem deutsch-chinesischen Wirtschaftsgipfel analysiert die Bilanzfachfrau den Abend. Im direkten Vergleich zum brummbärhaften Bass Kissingers habe das perfekte Hanseaten-Englisch des Altkanzlers ein wenig hart gewirkt. Für chinesische Verhältnisse seien auch die Worte Schmidts oft undiplomatisch direkt gewesen – aber eben immer ehrlich und aus vollem Herzen kommend.

Zusammen bringen es Schmidt und Kissinger auf weit mehr als ein Jahrhundert weltpolitischer Erfahrung. Wenn sie gemeinsam in die Zukunft schauen, dann sind sie sich einig darin, dass von der neuen Führung in Peking kein fundamentaler Wandel zu erwarten sei. Schmidt schafft es, in der Antwort auf die entsprechende Frage auch noch den Untergang der Inka-Kultur und die mangelhafte Sozialversicherung auf dem Balkan zu packen. Beide kommentieren lieber die großen Entwicklungslinien der Welt als das Kleinklein des Tagesgeschäftes. China werde seinen eigenen Weg gehen, sagt Schmidt. Darüber könne sich der Westen nicht beklagen, sagt Henry Kissinger. Lina Che sagt: „Ich glaube, ich habe heute ein Stück Geschichte erlebt.“