Die Stadt Weingarten in Oberschwaben schafft es, jungen Leuten politisches Engagement schmackhaft zu machen. Dort tagt der am längsten bestehende Jugendgemeinderat Deutschlands.

Weingarten/Stuttgart - Knapp 30 Jugendliche haben sich an diesem Nachmittag im Rathaus von Weingarten versammelt. Die neuen, die im November gewählt wurden, fremdeln noch ein bisschen mit dem großen Rahmen, wirken verloren im altehrwürdigen Ratssaal der Stadt mit seinen Buntglasfenstern. Man sitzt an den Tischen bei Apfelsaft und Wasser, hört interessiert, was der Oberbürgermeister über die Alkoholtestkäufe berichtet. Ein 17-Jähriger war unterwegs und hat in sieben von 20 getesteten Läden Alkohol und Zigaretten bekommen. Händler, die Alkohol an Jugendliche unter 18 Jahren abgeben, müssen mit Bußgeldern von 300 Euro rechnen, erklärt der Oberbürgermeister. Aha. Der versammelte Jugendgemeinderat spendet lauten Applaus für die Testkäufer-Idee.

 

In den späten achtziger Jahren war die Jugend ganz hungrig auf Politik, wollte mehr mitreden, mitbestimmen, sich in Jugendgemeinderäten für ihren Ort einsetzen. Die Begeisterung hat sich längst gelegt. Viele Räte gibt es nicht mehr – aus Mangel an Jugendlichen, die noch bereit sind, sich über Jahre hinweg einer Sache zu verschreiben. Gesellschaftsforscher empfehlen Gemeinden, die aktive Jugendbeteiligung wollen, lieber zeitlich überschaubare Projekte anzubieten. Auch die Landesregierung berät heute darüber, wie man jungen Leuten kommunalpolitisches Engagement schmackhafter machen könnte. Innenminister Reinhold Gall schlägt vor, „die Beteiligungsrechte von Kindern und Jugendlichen verbindlich in der Gemeindeordnung zu verankern“. Künftig können Jugendliche die Einrichtung einer Jugendvertretung beantragen. Vielleicht hilft’s ja.

Weingarten braucht keine Hilfe. Joshua Haslinger, 17, ist im dritten Jahr Jugendgemeinderat. Er hat „noch kein einziges Mal daran gedacht, wieder aufzuhören“. Er und seine Kollegen stehen in einer 29-jährigen Tradition. Sie gehören dem am längsten bestehenden Jugendgemeinderat Deutschlands an. Eine Art Vorzeigetruppe.

Viele gehen sang- und klanglos ein

Im vergangenen Jahr zählte die Landeszentrale für politische Bildung 73 Jugendgemeinderäte in den 1101 Kommunen Baden-Württembergs. Damit liegt der Südwesten zwar nach wie vor ganz vorn. Der gesamte Rest der Republik bringt es zusammen auf 100 Nachwuchsgremien.

Doch auch in Baden-Württemberg sind  viele Jugendgemeinderäte sang- und klanglos eingegangen. Auch hier wenden sich eigentlich engagierte und interessierte Jugendliche am Ende enttäuscht von der Politik ab. Sind mit Foren zu speziellen Themen mehr junge Leute für Politik zu gewinnen als mit einer Langzeitbeteiligung? Haben sich Jugendgemeinderäte überlebt?

In Weingarten stellen sich diese Fragen   nicht. „Bloße Projektgruppen sind Schwachsinn“, sagt Joshua. „Wenn ein Projekt gelingt, kann man doch gleich noch eins machen.“ Und seine Kollegin Charlotte Herzogenrath, 16, bezweifelt, „dass bei einmaligen Aktionen überhaupt was Gescheites herauskommt“.

Der Rekord-Jugendgemeinderat

In der 26 000-Einwohner-Stadt im Schatten der barocken Basilika hat man kein Problem mit Kontinuität. Dabei waren es gar nicht die Jugendlichen, die ursprünglich auf mehr Mitsprache drangen. Die Initiative ging vom damaligen Oberbürgermeister Rolf Gerich aus. Er wollte 1985, im internationalen Jahr der Jugend, seinen minderjährigen Bürgern ein Sprachrohr einrichten – was der Großteil seiner Stadträte für völlig überflüssig hielt. „Die Angst vor einem Jugendgemeinderat war groß, denn ein etablierter Gemeinderat will die guten Ideen lieber selbst haben“, sagt Dieter Pfleghar, der Fraktionschef der CDU, schmunzelnd.

In den Lehrern der Schulen fand der OB dagegen Mitstreiter. In den ersten Jahren, als die Jugendgemeinderäte in Mode kamen, hatten die Oberschwaben viel Besuch aus anderen Städten, die sehen wollten, wie es geht. Die Nähe zu den Schulen ist bis heute das Erfolgsrezept – Jugendorganisationen von Parteien haben im Weingärtner Jugendparlament nichts verloren. Im benachbarten Ravensburg erlitt man genau damit Schiffbruch, dort ist das zarte Pflänzchen Jugendgemeinderat eingegangen. In Weingarten lebt und wächst es. Jedes Jahr wird in den achten Klassen gewählt. Jedes Jahr kommen elf neue Räte hinzu. Jede Schule hat eine bestimmte Anzahl Sitze. Die Wahlbeteiligung liegt regelmäßig um die 95 Prozent. Der Rat hat zurzeit 42 Mitglieder, das älteste ist 21 Jahre alt.

In Weingarten scheint es zu gelingen, die Motivation zu erhalten. Keineswegs sei ein dauerhaftes Jugendgremium überholt, sagt der jetzige Oberbürgermeister Markus Ewald. „Bloße Aktionen ohne eine dauerhafte Institution sind viel Aufwand mit wenig Wirkung.“ Es gehe um das Netzwerk und die Verzahnung mit der lokalen Jugendarbeit. Die Stadt schätze die Stimme der Jugend. Die Geschäftsstelle des Gemeinderats ist zugleich Geschäftsstelle des Jugendgemeinderats, der eine feste Ansprechpartnerin für organisatorische Fragen und die Unterstützung des Jugendbeauftragten für inhaltliche Fragen hat.

Genügend Kandidaten

Und da sind die kleinen Zeichen der Wertschätzung. Der Jugendgemeinderat tagt wie sein Pendant für die Erwachsenen im großen Sitzungssaal, den Vorsitz führt auch hier der OB. Von der einen Wand prangt das goldgerahmte Stadtwappen, von der anderen lächelt der Gründervater des Jugendgemeinderats auf die Nachwuchspolitiker herab.

Bei der Sitzung stellt Niklas, 14, die geplanten Aktivitäten zur Kommunalwahl vor. Man könnte in einer Schulmensa eine Diskussion mit den Vertretern der Parteien machen, meint er. Der Oberbürgermeister wird den Wunsch des Gremiums bei seinem nächsten Treffen den Schulleitern vorstellen. Das fände auch der Vertreter der Jungen Union gut, der heute als Gast dabei ist. Charlotte findet – im Gegensatz zu manchen ihrer Kollegen – keinen Nachteil in der Zusammenarbeit mit parteilichen Jugendorganisationen. „Dann müssen wir schon nicht alles alleine machen.“

Sie ist seit vier Jahren Jugendgemeinderätin und damit in der Verlängerung. Die erste Amtszeit endet nach der zehnten Klasse. Wer will, kann sich für eine zweite Amtszeit wählen lassen. Dann allerdings vom Gremium selbst. Das Interesse an der Kommunalpolitik zu wecken, sind Lehrer wie Hiltrud Sontheimer bemüht. Sie spricht an der Realschule Weingarten jedes Jahr Schüler an, die sie für geeignet hält, auch Joshua hat sie für eine Kandidatur gewonnen. „Wobei ich selbst gar nicht viel sage. Überzeugt werden die Kandidaten von den Jugendlichen, die im Gremium drin sind.“ An Kandidaten fehle es nie.

Nachwuchs für die Parteien

Vor drei Jahren hat sich Joshua überzeugen lassen, dass eine Kandidatur sinnvoll ist. Er ist unter neun Kandidaten Erster geworden. Vier Sitze hat seine Realschule. So richtigen Wahlkampf hat er nicht gemacht. Sein Versprechen war: „Ich werde mich einsetzen.“ Das tut er. Nun ist er mit Charlotte Sprecher des Gremiums. Zu viel ist beiden das Engagement nicht. Sechsmal im Jahr tagt das Plenum. Dazu kommt ein Arbeitsseminar am Jahresanfang. Viele der Aktivitäten sind eher unpolitisch: man macht eine Osterhasenvisite im Krankenhaus oder wandert mit Senioren. „Die Zeit kann sich jeder nehmen. Das ist nicht zu viel“, sagt Joshua. Als Dank gibt es jährlich ein Zertifikat und viel Lob, vor allem von den Lehrern. Wer sich sehr einsetzt, darf auch mal eine städtische Delegation bei Reisen in Partnerstädte begleiten.

Simon Schrade, 19, war fünf Jahre ein Aktivposten im Weingärtner Jugendgemeinderat, inzwischen ist er ausgeschieden. „Kaum irgendwo läuft es so gut wie bei uns“, sagt er. Die jungen Räte könnten alles auf ihre Tagesordnung nehmen, was sie wollen. So habe der Jugendgemeinderat jetzt das Thema Gemeinschaftsschule zur Sprache gebracht. „Der Gemeinderat hatte das gar nicht auf dem Schirm.“ Dass die 3562 Weingärtner unter 18 Jahren ein Sprachrohr brauchen, ist für Simon keine Frage: „Die Stadt wird von Ü-60 regiert“.

Doch mit dem Regieren ist das so eine Sache. Der OB trägt die Angelegenheiten der Jugendlichen getreulich in die Verwaltung oder den Gemeinderat weiter. In beratenden Ausschüssen haben die Jugendlichen einen festen Sitz, in beschließenden aber nicht. „Es fehlt die echte Durchsetzungskraft“, sagt Simon. Er wünscht sich ein verbindliches Mitspracherecht für Jugendliche, so wie es jetzt auch vom Landeskabinett empfohlen wird.

Lange Tradition

Der OB ist stolz, die Gemeinderäte sind stolz, die Lehrer sind stolz. Doch trotz der langen Tradition ist die Strahlkraft des Weingärtner Jugendgemeinderats gerade in die Kreise der Jugendlichen hinein begrenzt. Charlotte ist nicht die Einzige, die bis kurz vor der Wahl in der achten Klasse noch nie von dem Gremium gehört hatte. Dass Jugendliche konkrete Wünsche und Forderungen an sie herantragen, ist noch nie vorgekommen. Simon berichtet aus seiner fünfjährigen Amtszeit von zwei Anfragen. Diese kamen damals aber nicht von Jugendlichen, sondern vom Radverein.

Umso interessanter ist der politische Nachwuchs für die Parteien. Drei Räte aus dem Kreis des Jugendgemeinderats streben bei der Kommunalwahl am 25. Mai ins Erwachsenenparlament. Darunter Laura Tuske. Sie wird bei der Wahl 18 Jahre alt sein und damit einer der jüngsten Kandidaten in ganz Baden-Württemberg. Eine Anfängerin mit viel Erfahrung.