Der Mannheimer Politologe Marc Debus erklärt, warum immer mehr Wähler sich immer später entscheiden – und warum Nichtwähler nicht wählen. Seine Schlussfolgerung ist überraschend.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Mannheim - Marc Debus (42) hat an der Universität Mannheim eine Professor für Vergleichende Regierungslehre inne.

 

Herr Debus, was sind die wichtigsten Motive für Wähler?

Es gibt eine Reihe von Faktoren, die auch ineinandergreifen: zum einen der soziale Hintergrund. Arbeiter und vor allem Gewerkschaftsmitglieder wählen eher SPD, regelmäßige Kirchgänger eher die Union. Allerdings schwinden diese beiden Gruppen – was ein Problem für die Volksparteien ist. Wichtig ist auch die Identifikation mit einer Partei. Die bildet sich schon im Jugendalter heraus, sie erweist sich als langfristig stabil. Das hat sich aber auch abgeschwächt.

Werden Parteibindungen also vererbt?

Das wäre zuviel gesagt. Sie wird aber geprägt durch das familiäre Umfeld und die Verhältnisse, in denen jemand aufwächst.

Weniger Stammwähler, mehr Wechselwähler?

Der Anteil von Wählern, die sich erst spät und dann eher aus der Situation heraus entscheiden, nimmt zu. Damit wächst auch die Bedeutung der Wahlkämpfe.

Was zählt da mehr: Flugblätter oder Talkshows?

TV-Duelle wecken das politische Interesse. Es gibt aber wenige Belege dafür, dass sie einen starken Effekt auf das Wahlverhalten haben. Was wichtig sein kann, ist der Haustürwahlkampf. Er zielt darauf, Menschen zum Wählen zu motivieren, die eine enge Bindung an die eigene Partei haben. Das funktioniert nach dem Schneeballeffekt: Wer überzeugt wird, versucht wiederum, Leute aus seinem Umfeld zu überzeugen.

Überzeugen Personen mehr als Programme?

Wie sympathisch Menschen die Kandidaten finden, spielt bei ihrer Wahlentscheidung durchaus eine Rolle. Wichtig ist auch die Frage, wem sie zutrauen, Probleme zu lösen, die sie selbst für wichtig halten. Es ist keineswegs so, dass Sympathie für einen Kandidaten immer wichtiger geworden wäre. Das war schon 1969 und 1972 bei der Wahl von Willy Brandt sehr wichtig – ähnlich wie jetzt. Was die Programme betrifft, so berichten Medien ja ausführlich über einzelne Schwerpunkte. Das sickert auch durch bei den Wählern durch, selbst wenn sie selbst nie einen Blick in die Programme werfen. Was man auch nicht unterschätzen darf sind Instrumente wie der Wahl-o-Mat – sie fördern das Interesse, motivieren zur Wahl und haben auch Einfluss auf die Wahlentscheidung.

Warum gehen Nichtwähler nicht wählen?

Das sind tendenziell Menschen mit geringer Bildung, geringem Einkommen. Sie beteiligen sich weniger an der Demokratie. Doch spielt dabei auch eine Rolle, wie polarisiert ein Wahlkampf ist. Die AfD hat Nichtwähler mobilisiert, aber davon nicht allein profitiert. Gegner der AfD wurden allein durch die Präsenz einer solchen Partei motiviert, wieder wählen zu gehen. Je polarisierter der Wahlkampf ist, desto mehr interessieren sich die Leute dafür.

Warum sind immer mehr Wähler sehr lange unentschlossen?

In den 1960er Jahren haben sich nur fünf Prozent der Wähler erst in den letzten Wochen vor dem Wahlsonntag entschieden, inzwischen sind es mehr als 40 Prozent. Das liegt daran, dass langfristige Bindungen schwächer werden. Deshalb sind die jetzigen Umfragen keineswegs eine Prognose für den Ausgang der Wahl. Da kann sich noch enorm viel tun.

Das Gespräch führte Amin Käfer.