Ein 25-jähriger Stuttgarter wird wegen Beleidigung verurteilt. Er selbst sagt, er habe nur auf Rassismus bei der Polizei aufmerksam machen wollen. Wird das Gericht das Urteil aufheben?
Dass es unter Polizisten auch solche mit rechter Gesinnung gibt, ist nicht von der Hand zu weisen. Darf man deswegen die Institution Polizei als rassistisch bezeichnen? Zweimal hat ein Stuttgarter Gericht dagegen entschieden. Ein wegen Beleidigung angeklagter 25-jähriger Stuttgarter hofft nun dennoch auf einen Freispruch. Unterstützt wird er dabei von einer Gruppe junger Menschen, die für das Recht auf freie Meinungsäußerung und Kritik an der Institution Polizei kämpfen. Doch wie kam es dazu?
Es ist eine zufällige Begegnung im Oktober 2023. Bela Diegt* geht an einer Stuttgarter U-Bahn-Haltestelle an einer Polizistin und einem Polizisten vorbei. Ein kurzer Moment, in dem die Worte fallen: „Da ist ja wieder der Rassistenverein!“ Die Beamten nehmen daraufhin seine Personalien auf und zeigen den Mann an. Es kommt zu einem ersten Verfahren in Stuttgart im Januar 2024. Bela Diegt wird schuldig gesprochen. Er legt Berufung ein. Der zweite Prozess findet Ende April ebenfalls in Stuttgart statt. Auch hier fällt das Urteil zu Ungunsten des Angeklagten aus.
Dass er wegen dieser Bemerkung vor Gericht landen würde, hätte sich Bela nicht träumen lassen, erklärt er unserer Redaktion nach der zweiten Verhandlung. Die Aussage habe er nicht explizit auf die beiden Beamten bezogen, sondern parodistisch auf die Institution Polizei, beteuert der junge Mann. Es sei ihm darum gegangen, auf das Thema Rassismus innerhalb der Polizei aufmerksam zu machen. Schließlich seien die beiden Beamten in Uniform unterwegs gewesen.
GdP fordert wachsames Auge gegenüber den Feinden der Demokratie
Die betroffenen Polizisten sehen das anders. Sie sagen im zweiten Prozess aus, sie hätten sich persönlich angegriffen gefühlt. Es habe vorher keinen Anlass gegeben. Auch seien ihnen keine rassistischen Vorfälle in ihrem Arbeitsumfeld bekannt.
Gegenüber unserer Redaktion wollen sich die beiden Beamten nach der zweiten Verhandlung nicht persönlich zu dem Vorfall äußern. Sie verweisen auf die Pressestelle der Stuttgarter Polizei. Dort wird zunächst um eine schriftliche Anfrage gebeten. Etwas mehr als eine Woche später teilt man uns telefonisch mit, dass in der Verhandlung alles Relevante gesagt worden sei und man sich zu dem Fall nicht weiter äußern wolle.
Auf eine schriftliche Anfrage bei der Gewerkschaft der Polizei (GdP) wird uns mitgeteilt, dass zu dem konkreten Fall und den entsprechenden Auslegungen keine Stellungnahme abgegeben werden könne. Die Gewerkschaft der Polizei fordere aber ein wachsames Auge und ein starkes Rückgrat gegenüber den Feinden der Demokratie. Auch in gefestigten demokratischen Strukturen, wie denen der Polizei, müsse Demokratie täglich neu erarbeitet und gelebt werden, betont der stellvertretende GdP-Bundesvorsitzende Sven Hüber in der Stellungnahme. Die GdP habe deshalb auf ihrem Bundeskongress im Herbst 2022 beschlossen, sich dafür einzusetzen, dass an jedem 21. März ein Aktionstag gegen Rassismus in der Polizei eingeführt wird.
70 Polizistinnen und Polizisten können nicht als „Einzelfälle“ abgetan werden
Doch was hat Bela Diegt zu seiner Aussage veranlasst? Im Gespräch mit unserer Redaktion nach der zweiten Verhandlung erklärte der Angeklagte: „Ich habe kurz vor der Begegnung die Sendung von Jan Böhmermann gesehen, in der es um den NSU 2.0 ging und wie die Polizei da massiv versagt hat und auch involviert war. Die Sendung war zwei Wochen zuvor erstmalig ausgestrahlt worden“. Er selbst beschäftige sich mit dem Thema Rassismus und versuche ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es sich nicht nur um „Einzelfälle“ handelt, wenn in den Medien über Vorfälle bei der Polizei berichtet wird. Von der Politik wird das Ganze seiner Meinung nach heruntergespielt oder totgeschwiegen.
Da sei zum einen der Bericht des SWR über die 130 Polizisten in Baden-Württemberg, die in den letzten vier Jahren unter dem Verdacht standen, rechtsextrem zu sein. Zum anderen verweist Bela auf rechtsextreme und rassistische Inhalte in Chatgruppen, an denen Frankfurter Polizistinnen und Polizisten beteiligt waren. Auch in Baden-Württemberg habe es Chatgruppen gegeben, in denen Hitlerbilder und Hakenkreuze ausgetauscht wurden.
„Insgesamt 70 Polizistinnen und Polizisten aus dem ganzen Land haben an diesen rechtsextremen Chatgruppen teilgenommen. Im Jahr zuvor, 2021, wurde bereits öffentlich, dass acht weitere Stuttgarter Polizisten zusätzlich rassistische und volksverhetzende Inhalte untereinander verschickten“, ergänzt Bela Diegt unserer Redaktion gegenüber und wundert sich, dass das niemandem innerhalb der Polizei aufgefallen sein will. „Aufgeflogen sind die acht nicht, weil andere Polizisten sie gemeldet haben, sondern weil gegen einen der Beamten anderweitig strafrechtlich ermittelt wurde“, empört sich der 25-Jährige. 70 Polizistinnen und Polizisten können nach Ansicht von Bela Diegt nicht als „Einzelfälle“ abgetan werden. „Das Problem ist, dass es viele Kollegen gibt, die nichts sagen“, so Bela weiter.
Gruppe von Polizeibeamten mit ambivalenter Einstellung zu Stereotypen
Immerhin haben die Vorfälle die Regierung veranlasst, eine Untersuchung in Auftrag zu geben. Forschende der Deutschen Hochschule der Polizei haben in fast allen Bundesländern Polizistinnen und Polizisten zu ihren Erfahrungen und Weltanschauungen befragt. Die Untersuchung wurde von Dezember 2021 bis Oktober 2022 durchgeführt. Allerdings gibt es für das Land Baden-Württemberg keine Ergebnisse, da hier Personalräte und Gewerkschaften die Teilnahme ablehnten.
Erste Zwischenergebnisse der Studie zeigten, so Prof. Dr. Anja Schiemann, Projektleiterin, Deutsche Hochschule der Polizei, dass sich nur eine sehr kleine Gruppe findet, die durchgängig problematische Einstellungen zeigt. Dies dürfe der Studie zufolge jedoch nicht als Entwarnung verstanden werden, denn „zum einen finden sich in jedem der untersuchten Einstellungsbereiche für sich genommen durchaus mehr als nur Einzelfälle, bei denen die individuelle Einstellung kaum mit den Leitbildern der Polizei in Einklang zu bringen ist“. Zum anderen gebe es einen klar erkennbaren Personenkreis, der sich ambivalent verhalte, also stereotypen, menschenfeindlichen Aussagen nicht eindeutig ablehnend gegenüberstehe.
Unterstützung erhält Bela Diegt von der Soligruppe „Gegen örtliche Rassist*innenvereine“. Diese hat sich nach dem ersten Gerichtsurteil, bei dem Bela Diegt wegen Beleidigung verurteilt wurde, zusammengeschlossen. „Wir als Soligruppe, der Angeklagte und auch der Rechtsbeistand sind sehr überzeugt davon, dass es eigentlich keine Beleidigung ist, sondern Sachkritik“, erklärt Mina Müller* stellvertretend für die Gruppe. Vor dem zweiten Prozessbeginn hat sich die Gruppe mit Plakaten und Transparenten vor dem Gerichtsgebäude aufgebaut, um auf die Situation aufmerksam zu machen. Auch während des Prozesses unterstützen die Gruppenmitglieder den Angeklagten und hoffen auf einen Freispruch im Berufungsverfahren.
Äußerung durch Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gedeckt
Bela Diegts Anwalt argumentiert im Prozess, dass die Äußerung durch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gedeckt sei.
Die Richterin teilte diese Auffassung nicht. In der zweiten Verhandlung führte sie in ihrer Urteilsbegründung aus, dass nicht nur eine „Kollektivbeleidigung“, sondern auch eine „Individualbeleidigung“ vorliege. Nach Ansicht der Richterin war „hier nicht die Polizei als Ganzes gemeint, sondern diese Äußerung bezog sich konkret auf zwei Polizeibeamte“. Der Angeklagte und die beiden Beamten hätten sich vorher nicht gekannt, es habe sich um ein zufälliges Zusammentreffen gehandelt. Daher sehe sie keinen sachlichen Bezug zur konkreten Situation. Am Ende der Verhandlung verurteilte die Richterin den Angeklagten erneut zu einer Geldstrafe, die bereits im ersten Verfahren verhängt worden war.
Bela Diegt sieht das anders: „Ich habe explizit einen Begriff verwendet, wo klar war, ich beziehe mich auf die Polizei und nicht auf die beiden Beamten“.
Das schriftliche Urteil hat der 25-Jähriger vor etwa einer Woche erhalten. Das Revisionsverfahren ist noch nicht abgeschlossen. Über seinen Anwalt lässt Bela nun prüfen, ob eine Revision Erfolg verspricht. Wie auch immer die Entscheidung ausfallen wird, Bela steht weiterhin zu seiner Aussage. Er hofft, dass die Polizei durch seine Aktion „aktiv gegen rassistische Strukturen in den eigenen Reihen vorgeht und das Thema ‚Rassismus bei der Polizei’ in den Lehrplan aufnimmt“. * Die richtigen Namen sind der Redaktion bekannt.