Im Tübinger Stadtteil Lustnau hat ein Verein den vermutlich ersten polytheistischen Tempel in Deutschland eröffnet. Nach Vorbildern aus den USA und aus England könnten hier einmal Jahreskreisfeste und Übergangsriten gefeiert werden.

Stuttgart - Als 2008 die archäologische Wanderausstellung „Gott weiblich“ auch in der Bischofsstadt Rottenburg (Kreis Tübingen) gastierte, drängten sich die Besucher. Dabei schien das Thema für Spezialisten zu sein: Wo begegnet uns das Weibliche in der jüdisch-christlichen Tradition? Im Diözesanmuseum konnte man altorientalische Idole und Göttinnendarstellungen von Isis, Astarte oder Adams erster Frau Lilith neben christlichen Madonnen und einer Pietà bewundern. Das große Interesse überraschte auch die Veranstalter vom „Bibel und Orient Museum“ im schweizerischen Fribourg. Offenbar hatte man einen Nerv getroffen.

 

Der Verein Polythea, der sich vor fünf Jahren rund um die Tübinger Diplomtheologin und Erfolgsautorin Vera Zingsem gegründet hat, geht jetzt noch einen radikalen Schritt weiter. Im Tübinger Stadtteil Lustnau hat er vor Kurzem einen kleinen polytheistischen Tempel eröffnet. „Die Vielfalt der Göttinnen und Götter richtet sich auch gegen die Einfalt des Mono“, sagt Zingsem und lässt mit einem Augenzwinkern in der Schwebe, ob sie Monotheismus oder Monotonie meint.

Der kleine Raum war vorher ein Yogastudio

Zingsem brach Mitte der 90er Jahre mit der katholischen Kirche, weil diese ihre Dissertation nicht angenommen hatte. Die Autorin war zu Schlüssen gekommen, die der kirchlichen Lehre entgegenlaufen. Seitdem hat die Feministin ihr Herz für vorchristliche Religionen entdeckt. Ihr Buch „Der Himmel ist mein, die Erde ist mein. Göttinnen großer Kulturen im Wandel der Zeiten“ aber ist ein Klassiker geworden und wird immer wieder aufgelegt.

Die Idee mit dem polytheistischen Tempel trieb Polythea schon seit Längerem um. Zingsem ist sehr glücklich, dass sie per Zufall in diesem Frühjahr einen passenden kleinen Raum gefunden hat. Er diente zuvor als Meditations- und Yogastudio und konnte praktisch ohne Renovierung übernommen werden. Nach Angaben des Vereins ist er der einzige polytheistische Tempel in Deutschland. Sein großes Vorbild steht in Glastonbury im englischen Somerset, wo man keltischen Göttinnen huldigt. Dort werden auch Priesterinnen ausgebildet. Ähnliche Einrichtungen gibt es in den Niederlanden, Schweden und den USA.

Platz für Jahreskreisfeste und Übergangsrituale

Nach deren Vorbild sollen auch in dem im Tübinger Tempel einmal Jahreskreisfeste und Übergangsrituale gefeiert werden, zum Beispiel Hochzeiten und Beerdigungen. Auch zur Meditation wird der Raum genutzt. Die alternativ-medizinische Heilerin („Hand auflegen“) Petra Linz trifft sich an Sonntagen mit Gleichgesinnten und sagt, dass ihr die Atmosphäre guttue: „Die Mythen und das alte Wissen der Frauen sprechen mich an“, auch der Buddha des universellen Mitgefühls, dem ebenfalls ein Platz gewidmet ist. Die Polythea-Vorstandsfrau Mechthild Schmitt gibt zu, dass sie sich selber immer wieder gerne in den Tempel setze, „um zur Ruhe zu kommen“.

Der kleine Andachtsraum ist gemütlich mit Holz verkleidet, eine Wand ist aus Naturstein gemauert. Bänke mit farbenfrohen Kissen und ein runder Tisch laden zum Verweilen ein. Die Wände sind geschmückt mit einigen Originalkunstwerken, vor allem aber mit vielen kleinen kunstgewerblichen Statuen, rund 70 an der Zahl. Gezeigt werden weibliche Gottheiten aus unterschiedlichen Kulturkreisen und Epochen. Aber nicht nur. „Wo die Göttin ist, ist auch der Gott“, sagt Zingsem. Polythea sei kein Frauenclub, sondern stehe auch Männern offen.

Germanische Gottheiten sind schwer zu finden

Eine eiszeitliche „Venus“, eine südamerikanische Schlangengöttin, die mit Totenschädeln geschmückte indische Kali haben ihren Platz. Auch germanische Gottheiten sollen nicht zu kurz kommen, sagt Zingsem. „Leider haben unsere Vorfahren aber so gut wie nichts hinterlassen.“ Im Mittelpunkt stehen aber eindeutig Isis und Osiris. „Isis ist die erste Universalgottheit der Geschichte“, sagt Zingsem. „Freya, Kybele und Aphrodite gehen in ihr auf.“

Und wer interessiert sich für Polytheismus? Nicola Poppe kennt sich aus. Die Mitinhaberin des Tübinger Frauenbuchladens ist kein Mitglied von Polythea. Sie verkauft aber viele Bücher, die sich mit vorchristlichen spirituellen Wurzeln befassen: „Das Interesse, Jahreskreisfeste zu feiern und sich spirituell mit der Erde, der Natur zu verbinden, nimmt zu“, sagt Poppe. In diesem Sinne lädt der Tempel in der Alberstraße 8 am Freitag, 19. Juni, um 19.30 Uhr zum Fest der Sommersonnenwende.