Dagobert beendet am Samstagabend das Pop-Freaks-Festival im Merlin in Stuttgart mit Eskapismus pur. Das Schöne ist: der Mann meint das ernst - und er sorgt für seinen ganz eigenen Feinstaubalarm auf der Bühne.

Stuttgart - Schaut man die weltpolitische Situation an, ist vielleicht das Beste, was man gerade tun kann, sich dem Schlager-Eskapismus hinzugeben. So zum Beispiel im Merlin in Stuttgart am Samstag. Der Schweizer, der sich Dagobert nennt, beschließt das diesjährige Pop-Freaks-Festival mit lässig croonenden Schlagern und der ganz großen Show.

 

Es ist bereits sein dritter Auftritt im Merlin. Deshalb freut sich der in Musikgeschmacksfragen über jeden Zweifel erhabene Kurator Arne Hübner, einen „alten Bekannten“, nein vielmehr einen „guten Freund“ begrüßen zu dürfen. Dagobert wurde vom Lifestyle-Magazin GQ ja mal zum bestangezogenen Schweizer gewählt. Am Samstag betritt er die Bühne im schwarzen Jackett zum Satin-Schlafanzug mit Goldbrokat-Muster, dazu läuft ein geradezu sphärisches Intro. 

Anders als bei seinem ersten Pop-Freaks-Auftritt vor drei Jahren, bei dem er sich mit Gitarristen Philipp Bellinger und trashigen Beats vom iPod durch den Abend tragen ließ, erscheint der selbsternannte Schnulzensänger aus den Schweizer Bergen diesmal in Begleitung einer spielstarken vierköpfigen Band. Bellinger ist immer noch dabei und spielt nun Keyboards und Klavier. Zusätzlich sorgen ein Schlagzeuger, der ab und an Gitarre spielt, ein Gitarrist und ein Bassist, für einen voluminösen Sound. Der treibt den Schlager-Appeal auf Kosten der unberechenbaren, ja angenehm rustikalen Momente auf die Spitze.

Der Mann meint das ernst

Konnte man sich damals noch vorstellen, dass sich eine feine Ironie hinter all dem versteckt, merkt man jetzt: Der Mann meint das ernst. Das ist ebenso faszinierend zu betrachten wie das heterogene Publikum. Da singen Hipster mit ironischer Inbrunst und gereckten Fäusten einen Song nach dem anderen mit. Sie schmettern grandios-kitschige Zeilen: „Du bist viel zu schön um auszusterben / Lass unsere Kinder deine Schönheit erben“ oder „Frauen sind zum Heiraten / Dacht' ich mir, als ich eine sah“ zum Beispiel. Andere nehmen den übertriebenen Pathos sehr ernst. Er geht ihnen zu Herzen, sie schwelgen im siebten Schlagerhimmel, sehnen sich nach „Moonlight Bay“ und der Romantik der 50er-Jahre Komödien mit Doris Day: „Wie ein schöner Schmetterling / flatterte sie mir in den Sinn / und blieb darin weil ich seitdem verliebt bin“.

Dagoberts Posen sind wohldurchdacht. Mal dirigiert er die großen „Lalala“-Chöre, lässt gestandene Musikblogger und Fotografen der Stuttgarter Szene in der ersten Reihe ins Mikrofon singen. Dann grinst Dagobert und saugt den lautstarken Applaus der sichtbar glücklichen Zuschauer auf. Ja, der bald 35-jährige Sänger, der extra für den Stuttgarter Auftritt aus Berlin angereist ist, gibt den Leuten ein gutes Gefühl. Mühelos lässt er das Publikum den Alltag vergessen, wenn er mal nicht gerade von der im Kunstnebel versunkenen Bühne herunter fragt, ob noch immer Feinstaubalarm herrsche.

Dagobert veröffentlicht beim Punklabel „Buback Tontärger“ und ist zusammen mit Blixa Bargeld (Einstürzende Neubauten) auf der aktuellen Casper-Single „Lang lebe der Tod“ zu hören. Er zitiert sich gekonnt durch die Popgeschichte, flicht in „Für immer blau“ Reminiszenzen an „Let it Be“ und Alphavilles „Forever Young“ ein und erinnert mitunter in den Arrangements an Get Well Soon – kein Wunder, war doch Konstantin Gropper bei Songs des zweiten Albums „Afrika“ beteiligt.

Fast 90 Minuten steht Dagobert, der eigentlich Lukas Jäger heißt, auf der Bühne und beschenkt das weitgehend treu ergebene Publikum mit Liedern seiner beiden Alben. „Ich bin zu jung“, eine veritablen Hitsingle, die dem ZDF-Fernsehgarten einen seiner wenigen denkwürdigen Auftritte bescherte, wird in einem neuen wavigen Arrangement ebenso begeistert aufgenommen wie „Zehn Jahre“ und „Morgens um halb Vier“. Die Weltflucht-Hymne „Afrika“ sorgt jedoch für vereinzeltes Stirnrunzeln. Ist die Aussage, die Zivilisation zu verlassen, um bei den Affen in Afrika zu sein, nun rassistisch oder nicht?

Natürlich führen solche Überinterpretationen ins Leere, man denke an Georg Diez' Lektüre von Christian Krachts Roman „Imperium“ – im Gegenteil sind es diese Momente, die den eskapistischen Charakter von Schlagerkonzerten einmal mehr vor Augen führen. „Bald ist der Krieg vorbei / Dann geh'n wir angeln, nur wir zwei“, singt Dagobert gegen Ende des Abends, nun im ärmellosen Shirt der mit ihm freundschaftlich verbundenen Ruhrpott-Metal-Band Kreator, gegen Ende des Abends und betont genau diesen Aspekt. 

Für eineinhalb Stunden vergisst man alles um sich herum. Dagobert bedient ganz ohne die überbordende Ironie eines Dieter Thomas Kuhn auch Schlagersehnsüchte von Leuten, die sonst nie auf ein Schlagerkonzert gehen würden, und das ist in dunklen Zeiten nicht das Schlechteste.


Mehr zum Pop in der Region Stuttgart gibt's bei kopfhoerer.fm - auch auf Facebook.