Santiano haben in der Porsche-Arena vor 4500 Fans ihr Seemannsgarn gesponnen: neue und Alte Lieder vom Fernweh, Liebe und Tapferkeit begeisterten bei perfekter Optik. Fast könnte man am Neckar vergessen, dass die hohe See weit weg ist.

Stuttgart - „Jeder“, sagt der Seemann mit markiger Stimme, „verirrt sich irgendwann im Dunkel des Herzens.“ Keine Sorge, Santiano singen: „Bald bin ich da. Ich bring dich heim, zurück Nachhaus!“ Die Porsche-Arena ist ausverkauft, am Sonntagabend – aber die 4500 Menschen, die dort sitzen und dem populären Seemannsgarn der Band aus Schleswig Holstein lauschen, hätten kurz zuvor tatsächlich jemand nötig gehabt, der sie herein geholt hätte, nämlich in diese Halle. Eine gute Stunde brauchten jene unter ihnen, die mit dem Auto kamen, um die gar nicht so lange Mercedesstraße zurückzulegen, völlig verloren im Blechmeer heimfahrender Fußballfans. Doch keine Sorge! Santiano haben ihr Konzert nicht pünktlich begonnen. Erst, als alle da sein können, knarrt die Stimme von Björn Both wie ein langsam zerbröselnder Staudamm; Akkordeon und Fiddel schunkeln selig zwischen Schlager, Folklore, Rock ‘n Roll, die Trommel schlägt hohl und kräftig, die ganze Mannschaft singt: „Sail away, sail away, sail away!“ Fantasien von Flucht und Freiheit, großer Weite – sie sind offenbar gefragt im Stuttgart des Jahres 2018.

 

Spät am Abend, noch vor der langen Zugabe, wird Björn Both dann zurückblicken auf die Reise von Santiano. Sechs Jahre dauert sie nun schon, begonnen hat sie in Flensburg. Die kantig inszenierte Mischung aus raubeinigen Liedern, mitsingbaren Refrains, Fernwehhymnen und wuchtiger Optik katapultierte die fünf Musiker sehr schnell an die Spitzen deutscher Hitparaden. Dort haben sie sich seither sehr gut eingerichtet – auch „Im Auge des Sturms“, das vierte Santiano-Album, veröffentlicht im Oktober, belegte einen ersten Platz. Drei Mal holten Santiano als beste Gruppe im Bereich der volkstümlichen Musik den Preis Echo Pop.

Der Bizeps ist tätowiert, das Gesicht vom Wind gegerbt

Nach Stuttgart kommen sie immer wieder, ihrem Publikum bleiben sie nichts schuldig. Björn Both schickt einen trotzig wilden Blick in die Halle hinaus, lässt seine tätowierten Bizeps spielen, bewegt den Kopf singend auf und ab; seine Stimme grollt wie die Brandung. Flammen schlagen hoch, in einem großen, projizierten Kajütenfenster schwebt ein Rochen; die Bühne ist in tiefrotes oder meergrünes Licht getaucht. Ein Seemann schreitet vor, zurück, schlägt die akustische Gitarre. Das nächste Lied hat längst begonnen, vom Whisky handelt es.

Santiano treten auf mit einer Vielzahl von Instrumenten – reichlich Percussion ist dabei, Akkordeon, Geige, die Tin Whistle, die Mundharmonika, die Mandoline. Björn Both selbst spielt manchmal Gitarre, schlägt manchmal den Bass; an seiner Seite Axel Stosberg, der nicht minder männlich finster und vom Wind gegerbt darein schaut und bei vielen Stücken den Gesangspart übernimmt. Hans-Timm „Timsen“ Hinrichsen, Andreas Fahnert sind mit auf Fahrt, Peter David „Pete“ Sage ist der musikalische Alleskönner an Bord. Santiano schöpfen ihr Klischee wie immer herzhaft aus und schenken ihren Fans stürmische Träume von der hohen See, fürchten dabei auch die Untiefen nicht. 27 Stücke singen, spielen sie an diesem Abend, bringen ihr neues Album fast vollständig auf die Bühne, streifen durch ihre Vergangenheit.

Die elfenhaft helle Stimme scheint an scharfen Klippen zu brechen

Bei „Im Auge des Sturms“, dem aktuellen Titelsong, tritt die Sängerin Anna Brunner im flammend roten Kleid auf, singt ein Duett mit Björn Both. Ihre elfenhaft helle Stimme reibt sich mit lang gehaltenem Ton an der seinen. Nebel fließt über den Boden – wiederum eine perfekte Inszenierung, windgepeitschtes Herzensleid, auch zuvor schon, als Both alleine auf der Bühne den Song „Weh mir!“ in dunkler Bühnennacht mit einer Stimme raunt, die an scharfen Klippen zu brechen scheint.

Santiano suchen so ihren Weg zwischen temporeichen Folknummern und Schlagerpathos, streunen hin und wieder ein schnelles Gitarrensolo ein, nähern sich dem Rock ‘n Roll, schunkeln dann wieder, singen von Einigkeit, Tapferkeit und allerlei Mythen. „Frei wie der Wind“ erkennt jeder unschwer als deutsche Coverversion des Mike-Oldfield-Hits „In France“; „Walhalla“ entpuppt sich als Song „All you Zombies“, 1982 aufgenommen von The Hooters. Donner ertönt zwischen den Liedern, ein Seemann späht durchs Periskop ins Publikum hinaus, Santiano trotzen Tod und Teufel und ihre Fans feiern mit ihnen. „Alle, die mit uns auf Kaperfahrt fahren“, brüllt Björn Both in die Brandung, „die haben Bärte!“