Teilt man die Rolle, die in vielen Popvideos für Frauen vorgesehen ist, Männern zu, dann wird deutlich, wie dumm die Stereotype sind. Einem skandalträchtigen Hit von Robin Thicke ist es zu verdanken, dass die Branche intensiv über Sexismus diskutiert.

Stuttgart - Ein Mann im knappen Feinripphöschen lehnt an einer Wand, die Augenlider dunkel geschminkt; er schaut lasziv in die Kamera und leckt sich dabei sinnlich die Lippen. Ein absurdes Bild? Wohl wahr. Zu sehen ist die Szene in einer der Parodien auf Robin Thickes Hit „Blurred Lines“, die im Internet kursieren. Die Botschaft ist vielleicht nicht allzu originell, dafür aber unmissverständlich: Teilt man die Rolle, die in vielen Popvideos für Frauen vorgesehen ist, Männern zu, dann wird schnell deutlich, wie dumm die Stereotype sind, die durch solche Clips reproduziert werden.

 

In was für eine Sache ist Robin Thicke da nur hineingeraten? Erst schaffte der 36-jährige R’n’B-Sänger mit „Blurred Lines“ den lang ersehnten ganz großen Durchbruch – nur um dann miterleben zu müssen, wie eine Welle der Empörung über ihn hereinbricht. Jedenfalls ist „Blurred Lines“ nicht nur der erfolgreichste Song 2013, sondern inzwischen wohl auch das Lied, das die größte Kontroverse in der Popmusik seit Jahren verursacht hat.

Oben ohne und erniedrigt

Ende März veröffentlichte Thicke den Song, den er zusammen mit Pharrell Williams, einem der erfolgreichsten Musikproduzenten des Planeten, und dem Rapper T. I. aufgenommen hatte. Im April erklärte die erste Bloggerin das Stück zu einem „Vergewaltigungssong“. Während des Sommers, als „Blurred Lines“ fast überall zu hören war, kochte die Diskussion weiter hoch; im September wurden auf einer feministisches Demonstration in Chicago Schilder in die Luft gereckt, auf denen „Fuck Robin Thicke“ und „There are no Blurred Lines“ zu lesen war. Dann untersagte eine Studentenverbindung der Universität Edinburgh den DJs, die auf ihren Partys die Musik auflegen, künftig den Song zu spielen. Etwa 20 weitere Verbindungen in Großbritannien folgten diesem Beispiel, vor ein paar Tagen auch eine am University College London.

Die Ursache der Empörung ist zum einem das Video zum Lied. Darin zu sehen sind Thicke, Williams und T. I., alle in lässig aufgeknöpften Hemden zum Anzug. Sie tragen Sonnenbrillen und coole Hüte, an den Handgelenken protzige Uhren. Die drei wirken nicht gerade wie Leute, mit denen man über die jüngsten Errungenschaften der Gender Studies diskutieren könnte. In der unzensierten Version des Clips tanzen die Frauen oben ohne durch die Szenerie und müssen sich Erniedrigungen gefallen lassen, zum Beispiel als ein Model Thicke erst eine Zigarette anzündet und im Gegenzug von dem Sänger Rauch ins Gesicht geblasen bekommt.

Ein Freibrief zur sexuellen Nötigung?

Dazu kommt der Text. Im Refrain heißt es unter anderem „I hate these blurred lines, I know you want it“ – was sich in etwa übersetzen lässt mit: „Ich hasse diese verschwommenen Aussagen, ich weiß, dass du es willst.“ Wenn Frau also Nein sagt, meint sie in Wahrheit Ja – Kritiker sehen darin einen Freibrief zur sexuellen Nötigung, wenn nicht gar Vergewaltigung. Dazu kommen Passagen, an denen etwa Analverkehr in drastischer Wortwahl verherrlicht wird.

Eher unbeholfen reagierte Thicke auf die Kritik. Der BBC gegenüber bestritt der US-Musiker, dass der Song sexistisch sei, weil er in Wahrheit von seiner Frau handle. Sogar eine feministische Botschaft wollte er in seinem Werk entdecken – eine so abenteuerliche Interpretation, dass man schon postmoderne Literaturtheorie studiert haben muss, um diese Auslegung einigermaßen plausibel zu finden.

Thicke ist seit zwanzig Jahren mit seiner Frau zusammen

Für Robin Thicke kam die Entrüstung jedenfalls unerwartet. Immerhin schreibt er seit etwa 20 Jahren R’n’B-Songs, die vorwiegend von einem weiblichen und schwarzen Publikum gehört wurden. Der Durchbruch in den Mainstream gelang ihm erst mit „Blurred Lines“. Dass er jemals des Sexismus beschuldigt werden würde, hätte Thicke wohl nie gedacht, schließlich begreift er sich als einen Songwriter mit politischem Bewusstsein und sieht sich damit in der Tradition von Musikern wie Marvin Gaye, John Lennon oder Bob Marley. So thematisierte er auf seinen früheren Alben auch gesellschaftliche Missstände wie Rassismus.

Zudem ist Thicke seit zwanzig Jahren mit ein- und derselben Frau zusammen, nämlich der Schauspielerin Paula Patton. 2005 heirateten die beiden, 2010 kam ihr Sohn auf die Welt. Derlei Bodenständigkeit passt nicht zu dem Zuhälter-Image, das sich Thicke offenkundig verpassen will – man kann hier nicht nur an das mittlerweile berüchtigte Video denken, sondern auch an seinen skandalträchtigen Auftritt mit Miley Cyrus bei den MTV Video Awards, für den vor allem seine Sängerkollegin viel Häme einstecken musste.

Der jüngste Debattenbeitrag stammt von Lily Allen

Beiden geht es dabei aber kaum um irgendeine Botschaft, sondern vor allem um eine Inszenierung, die sich gut vermarkten lässt. Insofern ist es nicht unwahrscheinlich, dass Thicke es ehrlich meint, wenn er behauptet, dass er mit „Blurred Lines“ keinesfalls Frauen zu Sexobjekten reduziere wolle. Das Ganze sei „spaßig“ gemeint gewesen. Es ist auch kaum vorstellbar, dass der in dem Video ebenfalls zu sehende Schriftzug „Robin Thicke has a big dick“ („Robin Thicke hat einen großen Schwanz“) ernst gemeint sein könnte. Besonders geistreich sind derlei pubertäre Scherze allerdings nicht.

Ein Gutes hat die Angelegenheit aber doch: In der Popbranche wird derzeit intensiv über Sexismus diskutiert. Der jüngste Debattenbeitrag stammt von Lily Allen. Das Video zum aktuellen Song der englischen Musikerin, „Hard out here“, wurde binnen eines Tages mehr als eine Millionen Mal geklickt. In dem Stück heißt es: „Ich brauche nicht mit meinem Hintern für dich zu wackeln, denn ich habe Hirn.“

Lily Allen will damit das Frauenbild vieler ihrer Kollegen anprangern. Dumm nur, dass die 28-Jährige wegen des Videos selbst umgehend in die Kritik geriet, weil in dem Clip ausschließlich schwarze Frauen beim Hinterwackeln gezeigt werden. Allen inszeniere so ihre eigene Überlegenheit auf Kosten von Minderheiten, meinen manche. Gar nicht so einfach, Popstar zu sein, anno 2013.

Zur Person: Songwriter und Produzent

Schon früh startet Robin Thicke, der 1977 in Los Angeles geboren wurde und sich mit zwölf selbst das Klavierspielen beigebracht hat, als Songwriter und Produzent durch. Im Alter von nur 21 Jahren schreibt und produziert er Lieder für Popgrößen wie Michael Jackson, Marc Anthony, Pink oder Christina Aguilera. Sein erstes Album „A beautiful World“ erscheint 2003 und erreicht immerhin Platz 152 der amerikanischen Charts. Mit der Nachfolgeplatte „The Evolution of Robin Thicke“ (2006), das bis auf Platz fünf der US-Hitparade klettert, etabliert er sich endgültig als Singer-/Songwriter in der Sparte der Black Music. 2007 geht er mit Beyoncé auf Tour. Der internationale Durchbruch gelingt ihm aber erst in diesem Jahr mit dem Hit und gleichnamigen Album „Blurred Lines“ – Songs, die auch den Mainstream zum Tanzen bringen.