Nach Krawallen bei Rockkonzerten hat die Stadt Stuttgart 1970 ein „Popverbot“ erlassen. Die internationale Popkonzertszene wich deshalb nach Sindelfingen und Böblingen aus.
Christoph Wagner
08.10.2025 - 13:10 Uhr
Eingeschlagene Fenster, aus der Verankerung gerissene Stühle, eingedrückte Glastüren, verwüstete Telefonzellen – so beschrieb die örtliche Presse das Nachbeben eines Konzerts des englischen Bandleaders John Mayall, der am 19. Januar 1970 mit seiner Bluesband in Stuttgart aufgetreten war. „Ungefähr 600 wildgewordene Beatfans“ hatten versucht, ohne Eintrittskarten in die Liederhalle zu gelangen. „Nach dem Konzert war der Beethovensaal zwei Tage lang nicht bespielbar“, erinnert sich der Veranstalter Michael Russ.
Anfang der 1970er-Jahre waren solche Popkrawalle keine Ausnahmen, sondern eher die Regel. Vom rebellischen Geist der 68er-Zeit befeuert, stürmten Fans die Hallen, wenn ihnen die Eintrittspreise zu hoch erschienen, was oft der Fall war. Entnervt zog das Stuttgarter Kulturamt die Reißleine. „In Zukunft keine Beatveranstaltungen mehr. Beat und Blues aus der Liederhalle verbannt – kein Platz für junge Rowdys,“ kommentierte die Stuttgarter Zeitung den Beschluss. „Seit Monaten mussten bei solchen Veranstaltungen immer wieder Ausschreitungen registriert werden“, begründete das Kulturamt das Verbot. „An den Verwüstungen trägt weniger die Musik schuld, als die Absicht der Besucher, die Fetzen fliegen zu lassen.“ Ein harter Einsatz von Polizei sei ebenfalls nicht ratsam. Bei Blau würden viele Jugendliche rotsehen und dann erst recht provozieren.
Die Zeitung jubelt: „In Böblingen ging alles glatt.“
Obwohl selbst die Junge Union Kritik übte, trat das Stuttgarter „Popverbot” umgehend in Kraft, das anfangs nur die Liederhalle betraf. Die Südwestdeutsche Konzertdirektion Russ musste sich schnell nach anderen Räumlichkeiten umsehen, da für den 4. Februar 1970 – also nur zwei Wochen nach dem John-Mayall-Krawall – bereits die amerikanische Bluesrockband Canned Heat gebucht war. „Das brachte Böblingen ins Spiel“, erinnert sich der damalige Juniorchef Michael Russ, der für die Durchführung der Popkonzerte vor Ort zuständig war. Der Böblinger Auftritt von Canned Heat ging ohne Zwischenfälle über die Bühne. Die Stuttgarter Zeitung atmete auf: „In Stuttgart hatte es Ärger gegeben, in Böblingen ging alles glatt.“
Die Ruhe währte nicht lange. Schon beim Auftritt der Rolling Stones im September 1970 auf dem Killesberg krachte es erneut. Jetzt wurden auch die dortigen Messehallen für Rockkonzerte gesperrt. Veranstalter Michael Russ blies zum Rückzug: „Pop-Veranstaltungen wird es wohl keine mehr geben. Ich kann Derartiges nicht mehr verantworten.“ Ende 1970 gab es in der Landeshauptstadt folglich keine Räumlichkeiten mehr, wo Rockgruppen von internationalem Gewicht auftreten konnten.
Jede Band mit Rang und Namen tritt in Böblingen oder Sindelfingen auf
Das Stuttgarter „Popverbot“ wirkte als Katalysator für den rasanten Aufstieg, den Sindelfingen und Böblingen in Sachen Rockkonzerte nahmen. Nahezu jede Band, die in den 1970er- und 80er-Jahren Rang und Namen hatte, trat in einer der beiden Städte auf: Status Quo, Santana, Sly & The Family Stone, Fleetwood Mac, Deep Purple, Black Sabbath, Leonard Cohen, Johnny Cash, Dire Straits, AC/DC, Police, Metallica, Iron Maiden oder Queen – alle waren sie da: von Abba bis Zappa! Das machte die beiden Nachbarstädte damals zum Nabel der Popwelt im Südwesten, ein Umstand, den die „Stuttgarter Nachrichten“ 1974 auf die Formel brachten: „Ist in Stuttgart von Pop die Rede, meint man Böblingen oder Sindelfingen.“
Sindelfingens Aufstieg zu einem Eldorado des Pop ging von einer Initiative von völlig unbedarften Grünschnäbeln aus, Gymnasiasten, die aus der Jugendhaus-Bewegung kamen und sich Bird-Laden nannten, ein Nonsense-Wort. Der Initiative schwebten Rockkonzerte zum Selbstkostenpreis vor. „Auf Auftritte von Popgruppen will die Jugend nicht verzichten. Andererseits wollen sich die jungen Leute aber auch nicht ausbeuten lassen“, hieß es in einer Erklärung. „So werden Säle gestürmt, Steine geworfen, Krawalle inszeniert, anstatt selbstorganisierte Alternativen zu bieten.”
Gesagt, getan! Mit niedrigen Eintrittspreisen als Gegenmodell wollte die Popinitiative die Misere beheben. „Unsere Preise sind so scharf kalkuliert, dass wir keinen Gewinn machen und daher auf zahlreichen Besuch angewiesen sind,“ wurde an die Solidarität der Rockfans appelliert. Bei einem dieser „anti-kommerziellen Popkonzerte“ traten 1971 im Doppelpack die englischen Gruppen Audience und Nektar auf. Eintritt: lächerliche drei D-Mark. Als Schikane wurde jedoch empfunden, dass die Stadtverwaltung den Ausschank von Cola und Bier in der Sindelfinger Messehalle untersagt hatte. Selbsthilfe löste das Problem: Ein paar Fässchen Bier wurden herbeigeschafft und auf dem Parkplatz vor der Halle in Pappbechern gegen eine „Spende“ abgegeben.
Drei Mark Eintritt bei Status Quo
Die Eintrittspreise verharrten auf niedrigstem Niveau. Selbst beim Gastspiel der bekannten britischen Hardrocker Status Quo in Sindelfingen im Sommer 1971 wurde nur drei Mark Eintritt verlangt. Die Stimmung war blendend: Nach dem Soundcheck spielten die Popaktivisten mit den Jungs von Status Quo hinter der Halle Fußball.
Die Sache hatte allerdings einen Haken: Weil Gewinn machen verpönt war, konnten auch keine Rücklagen gebildet werden, was bei einem Flop das Ende der alternativen Rockkonzerte bedeutet hätte. Dazu kam: Um den hehren Ansprüchen „anti-kommerzieller Konzerte” zu genügen, war maximale Transparenz gefordert. Das verwandelte die Konzertankündigungen in der Presse zu Rechtfertigungsübungen, indem die Kostenkalkulation detailliert offengelegt wurde. Die Bildung eines finanziellen Polsters für den Fall eines Flops war nicht eingepreist.
Und Flops blieben nicht aus. Ein Konzert mit der Gruppe Lifetime des amerikanischen Schlagzeugers Tony Williams wurde zum finanziellen Fiasko, weil nur 800 Fans die Jazzrockgruppe sehen wollten. Nach diesem Misserfolg brauchte es dringend einen Lichtblick. Für den sorgte ein paar Wochen später Fleetwood Mac. Bei geschätzten 3000 Besuchern war die Sindelfinger Ausstellungshalle gesteckt voll, derart überfüllt, dass die Musiker nicht durchkamen und deshalb bei eisiger Kälte um das Gebäude herumgehen mussten, um durch den Hintereingang auf die Bühne zu gelangen. Doch merkwürdigerweise klaffte erneut ein riesiges Loch in der Kasse. Der Grund: Hunderte Fans hatten sich, ohne zu bezahlen, in die Halle geschmuggelt. Von Solidarität mit den Popidealisten keine Spur!
Kein Sponsor und niedrige Preise
„Da hat mein alter Herr ab und zu tief in die Tasche greifen müssen,” erläutert Jürgen Weber, Kopf des Bird-Ladens, wie der Abmangel beglichen wurde. „Die Konzerte waren mit einem ziemlichen Risiko verbunden. Das war immer eine Gratwanderung, weil wir ja keinen Sponsor hatten und die Eintrittspreise niedrig halten wollten. Eine Risikoabwägung fand nicht statt. Wenn wir von einer Band begeistert waren, wurde sie engagiert – egal was sie kostete.”
Nach so viel Pop in so kurze Zeit machten sich Sättigungserscheinungen bemerkbar. Die Fans blieben aus, die Träume vom Pop-Utopia begannen zu welken. Nun suchte die Sindelfinger Initiative die Zusammenarbeit mit professionellen Agenturen, die sie zuvor noch als „etabliertes Großmanagement“ geschmäht hatten.
Die Stuttgarter Rock-Abstinenz währte nicht ewig. Wieder waren es die Sindelfinger, die das „Popverbot” knackten und damit die Landeshauptstadt vor dem Absinken in die Provinzialität bewahrten. Den jungen Leuten vom Bird-Laden war es in Gesprächen gelungen, das Vertrauen des zuständigen Inspektionsleiters der Polizei für den Stuttgarter Norden zu gewinnen, der daraufhin sein hartes „Nein“ abschwächte und eine „Testveranstaltung“ erlaubte, die er als „Bewährungsprobe“ verstand.
In Stuttgart keimt neue Hoffnung
Der Versuch glückte. „Über 8000 Fans hatten Grund zum Jubeln“, hieß es in der Presse über das Konzert der britischen Bluesrocker Ten Years After 1973 auf dem Killesberg. „Ohne jeden Zwischenfall“ ging die Veranstaltung über die Bühne, wobei die Zeitungen voll des Lobs waren und die Vorbereitungen als „optimal“ priesen: „Der von vielen befürchtete Krawall blieb aus. Der Einsatzleiter der Polizei sprach von einem beispielhaft ruhigen Abend.“ Die Hoffnung keimte, dass das Stuttgarter „Hinterwäldlerdasein“ („Stuttgarter Nachrichten“) in Sachen Rockmusik bald der Vergangenheit angehören würde.
Allen Erwartungen zum Trotz nahm das Ende des Stuttgarter „Popverbots“ Sindelfingen und Böblingen kaum Wind aus den Segeln. Ihr Status als Zentren internationaler Rockkonzerte blieb bestehen, weil die beiden Nachbarstädte bei Tourneeagenturen inzwischen fest etabliert waren. Suchten Lippmann & Rau oder Mama Concerts für die Deutschlandtournee eines Rockstars im Großraum Stuttgart nach einem geeigneten Auftrittsort, waren Sindelfingen oder Böblingen erste Wahl. Dazu kam 1974 die neue Messehalle in der Daimlerstadt mit einer Kapazität von 7000 Besuchern, die Sindelfingen für Popkonzerte sogar noch attraktiver machte. Die idealistischen Popaktivisten hatten den Weg dafür gebahnt.
Sindelfingen und Böblingen blicken auf eine besondere Epoche zurück
Dokumentation „Von Abba bis Zappa – als Sindelfingen und Böblingen den Südwesten rockten (1964-1984)” lautet der Titel des neuen Buchs unseres Autors Christoph Wagner. In dem 260 Seiten starken Werk, das mit rarem Bildmaterial illustriert ist und im Verlag Regionalkultur erscheint, zeichnet der Musikhistoriker den Aufstieg der beiden Nachbarstädte nach, die in den 1970er-Jahren zu Zentren internationaler Popkonzerte wurden. Kein Rockstar, der damals nicht in Böblingen oder Sindelfingen auftrat.
Veranstaltungen In mehreren Pop-Talks wird im Herbst das Werk der Öffentlichkeit vorgestellt. Im Sindelfinger SMTT-Odeon ist am 10. Oktober (19 Uhr) Buchtaufe mit einem Multimediavortrag, Zeitzeugen und Vinyl-DJ. Am 18. Oktober wird im Blauen Haus in Böblingen eine Fotoausstellung mit dem Titel „Backstage bei Pink Floyd” eröffnet (20 Uhr). Bei diesem Pop-Talk wird auch Hans-Peter Haag einen Blick hinter die Kulissen des Popbetriebs gewähren. Der Konzertveranstalter hat 40 Jahre lang Rockkonzerte in Sindelfingen und Böblingen ausgerichtet.