In Grönland, im Hindukusch, in Kolumbien: Seine Arbeit hat Hermann Schlenker in die entlegensten Winkel der Welt geführt. Der Schwenninger ist ein Ethnologe mit der Kamera.

Schwenningen - Achtzig Lenze zählt er nun und hat auf seinem Griesget-Hof im Schwarzwald mit Yakherde und Fischzucht eine zweite Karriere als Bauer gestartet: der am 16. Juni 1932 in Schwenningen am Neckar geborene Hermann Schlenker, der Altmeister des ethnologischen Films. Dank seiner Arbeit, die ihn in die entlegensten Gegenden der Erde führte, taucht das Publikum in fremde Welten ein.

 

Zuletzt hat sich Schlenker in Zusammenarbeit mit Volkskundlern der Universität Freiburg dem versinkenden Brauch und dem vergessenen Handwerk in seiner südwestdeutschen Heimat gewidmet. In diesen Dokumentationen verzichtet er weitgehend auf einen Sprecher, stattdessen lässt er die Akteure selbst ausgiebig zu Wort kommen. Da reden Glasbläser und Hinterglasmaler, Flößer und Köhler, Schappelmacherin und Schildmaler, Schnitzer und Schindelmacher in ihrer Mundart. Dabei ist Schlenker selbst ein begeisternder Erzähler, der bei seinen frühen unvertonten Filmen ein gebildetes Publikum mit seinen Kommentaren in den Bann zog. Mit einem berührenden Porträt über den Maler und Grafiker Hans-Georg Müller-Hanssen, der während der Nazizeit Juden half, füllte er bereits vor Jahrzehnten große Säle.

Solche Erfolge des Außergewöhnlichen werden nicht an der Wiege gesungen, sondern mühsam errungen. Hermann Schlenker, Spross einer alteingesessenen Schwenninger Familie, war ursprünglich ein anderer Weg vorgezeichnet. Sein Wunsch, sich zum Kameramann ausbilden zu lassen, blieb unerfüllt: Auf Wunsch des Vaters ging’s nach dem Gymnasium in die Feinmechaniker- und Uhrmacherlehre. Als Jahrgangsbester ausgezeichnet, durfte Schlenker 1955 mit den anderen Preisträgern Südwürttembergs nach München reisen. Doch statt im Hofbräuhaus mit ihnen zu zechen, büxte er aus nach Geiselgasteig, um sich bei der Dachorganisation der filmschaffenden Künstler Deutschlands nach Möglichkeiten zu erkundigen, wie er ans Ziel seiner Träume gelangen könne.

Der Ratsuchende kam unangemeldet. Und er kam ungelegen, störte er doch den Chef der filmschaffenden Künstler bei einem traulichen Tête-à-tête. Hochkant flog Schlenker aus dem Büro und wurde des Geländes verwiesen. Zwölf Jahre später kehrte Schlenker als Produzent nach München zurück, und die Bavaria kaufte ihm seinen ersten Film ab: eine Genugtuung!

Neugier auf das Fremde

Dazwischen lag so manches. Die Ausbildung zum Lichtbildner beim Starfotografen Willi Moegle in Stuttgart brachte Schlenker seinem Berufswunsch schon etwas näher. Zudem weckte das sich in Ausstellungen der Welt öffnende Schwenninger Heimatmuseum seine Neugier auf das Fremde. Für vier Jahre verschlug es den jungen Fotografen in den hohen Norden. Mit 20 Mark in der Tasche, bescheidener Ausrüstung, aber gewaltiger Hoffnung zog Schlenker 1957 nach Island. Zunächst verdingte er sich in einer Fischfabrik, dann erkannte der Fabrikant und Verleger Ragnar Jonsson in ihm den Mann mit einem ungewohnten Blick auf die Dinge.

Schlenker hatte zu diesem Zeitpunkt, auch mit Hilfe der Kinderfibel seiner Wirtin, bereits Isländisch gelernt. Nun avancierte er innerhalb kurzer Zeit zum berühmtesten Lichtbildner der Insel. Von den Vestmannaeyjar aus erkundete er die schroff aus dem Meer aufragenden Felsen der Vogleinseln und drehte seinen ersten und einzigen Tierfilm.

Und er ließ sich für Wochen von der Fluggesellschaft Flugfélag Íslands, für die er Werbeaufnahmen machte, nach Grönland einschmuggeln, das zu jener Zeit als gemeinsames dänisch-amerikanisches Verteidigungsgebiet unter Nato-Führung für Touristen gesperrt war. Es gelangen einmalige Aufnahmen, die mit Erfrierungen erkauft wurden und mit der Ungewissheit, ob er das Land wieder ungestraft verlassen könne. Es glückte mit dem letzten Flug vor Wintereinbruch – und Freunden an Bord, die gegen einen blinden Passagier nichts einzuwenden hatten.

Vortragsreisen in der Heimat brachten Schlenker am Stuttgarter Linden-Museum in Kontakt mit Ethnologen, die der schwungvolle Schwenninger rasch für sich einnahm. Kontakte wurden geknüpft. Der erste große Auftrag ließ nicht lange auf sich warten: 1962 begleitete Schlenker für anderthalb Jahre als Kameramann eine Expedition unter Leitung des schwäbischen Völkerkundlers Friedrich Kussmaul zu den Bergvölkern im Hindukusch, ins Grenzgebiet zwischen Afghanistan, Pakistan, China – und fand fern der Heimat seine Lebensaufgabe: den eigenen tiefen Eindruck künstlerisch auf Zelluloid zu bannen, das bedrohte Andere erlebbar zu machen.

Abenteuer in Afghanistan

Afghanistan forderte Schlenker einiges ab: Die Wanzen waren bissig, die Mullahs unfreundlich – und der Ethnologe Kussmaul irgendwann krank: Zu Pferd über Stock und Stein, bei Tag und Nacht, mit Wölfen im Gefolge musste der Professor aus Iskatul in 3000 Meter Höhe ins Tal hinab nach Zebak gebracht werden und von dort mit einem Auto in die Hauptstadt Kabul. Die Klapperkutsche hatte der Feinmechaniker Schlenker fahrbereit gemacht.

Seine Auftraggeber vom Institut für Medien in der Wissenschaft faszinierte freilich weniger derlei technisches Geschick als vielmehr seine filmische Arbeit. Schlenker verwandelte sich selbst zum Forscher, eignete sich völkerkundliches Wissen und viele Sprachen an. 1964 brach er, nun Angehöriger des Instituts, mit Ethnologen aus Göttingen, Heidelberg und Wien nach Thailand auf, filmte die Akha, Lisu, Schwarzen Lahu und Miao. Die Bergstämme im Norden des Landes teilten mit ihm das Mahl aus Reis, Mais, rohem Hundefleisch.

Beinahe wäre der Alemanne den Akha auf Lebenszeit erhalten geblieben. Schlenker, der allein in einem Bambushäusle inmitten des Dorfes wohnte, freundete sich mit kleinen Kindern und alten Männern an, so dass der Schamane ihm vorschlug, zu bleiben und seine Tochter zur Frau zu nehmen. Vor seinem großen Haus, als Mitgift in die Ehe gegeben, hätte Schlenker sitzen und seine Pfeife rauchen können – bis ans Ende seiner Tage. Wie sollte der Junggeselle da den Kopf aus der Schlinge ziehen? „Es geht leider nicht. Ich bin Nichtraucher!“ gab er höflich Bescheid – und ging.

Nach seiner Rückkehr 1964 machte sich Schlenker, ein Freund der Freiheit, selbstständig und gründete eine Firma, die er mit jedem neuen Projekt aufs Spiel setzte. Er forderte sich selbst – oft bis an die Grenzen der Belastbarkeit, nicht selten unter Lebensgefahr. Schlenker besuchte Afghanistan, Pakistan und Malaysia. In Mali erforschte er die sich stark abgrenzenden Peulh mit ihrem strengen Sittenkodex, die vom Fischfang sich nährenden Bozo und die verführerisch fremde Welt der Dogon mit ihrer hochentwickelten handwerklichen Tradition, ihrer Maskenkunst, ihren Kriegstänzen für die Toten.

Bei den Makiritare und den Yanomami

Die friedfertigen Hochlandindianer des Arhuaco-Stammes in der Sierra Nevada de Santa Marta lernte er 1969 als „die älteren Brüder“ kennen, die davon ausgehen, dass sie ein umfassenderes Verständnis der Welt besitzen als andere, die sie als „die jüngeren Brüder“ betrachten.

Von Kolumbien ging es nach Venezuela: Die abenteuerliche Reise führte Schlenker zu den Makiritare in den Bergen der Sierra Pareima. Dann lebte er mit den Yanomámi zusammen, die damals von ihren Nachbarn noch angstvoll „Waika“ („die Wilden“) genannt wurden, lernte von ihnen an den Quellflüssen des Orinoco Bogen bauen, Pfeile fertigen, sie in Curare tauchen, das die Pfeile zur todbringenden Waffe macht.

Vogelspinnen, allerlei geröstete Insekten, Termiteneier, gekochte meterlange Würmer wurden Schlenker als schmackhafte Delikatesse vorgesetzt. Immer wieder beschlich den Schwenninger das bedrückende Gefühl, diese Indianer seien in der Moderne durch die verderbliche Begegnung mit der westlichen Zivilisation zum Aussterben verurteilt.

Bedeutet von außen diktierter Kulturwandel mehr Fluch als Segen? Die Frage stellte sich Schlenker zu Beginn der 70er- Jahre auch in Papua-Neuguinea. Zugang fand er dort zu den „Söhnen der Kopfjäger“ – und konnte die Gesellschaft der Iatmul am Mittelsepik in teilnehmender Beobachtung studieren. Auch ihren Glauben, der Kopf enthalte das Wesen des Menschen, weshalb sie die Schädel der Vorfahren kunstvoll konservieren. Sie werden gereinigt, mit Ton überzogen und nachmodelliert, anschließend so bemalt, dass sie das Ansehen des Verstorbenen ausdrücken.

Schlenker im „Land des Lächelns“

Die rituelle Kopfjagd war den Iatmul zu diesem Zeitpunkt von der australischen Verwaltung unter Androhung der Todesstrafe längst verboten worden. Dies hinderte den Dorfältesten freilich nicht daran, den alten Brauch vor laufender Kamera zu demonstrieren. Schlenker bekam das Bambusmesser an die Gurgel gesetzt und lernte so, wie mit einem gewaltigen Ruck das Haupt vom Rumpf zu trennen sei. Sein Kopf blieb freilich verschont.

Schlenker gewann das Vertrauen der Völker: Sie gewährten ihm den Blick von innen – fern aller oberflächlichen Ethnofilmerei. In Afghanistan begleitete er die Nomaden des Pamir, bei im Exil lebenden Tibetern in Indien erkundete er zusammen mit dem Völkerkundemuseum Zürich den Lamaismus mit seiner tiefen Gläubigkeit und erwarb in den frühen Siebzigern die fortdauernde Freundschaft des Dalai Lama. Im als Klein-Tibet bekannten Ladakh als dem „Land des Lächelns“ nördlich des Nanga Parbat war er Gast der Königin Parvati Devi Deskit Wangmo. Im Inselmeer der Südsee lebte er ein halbes Jahr mit den 170 Bewohnern des Nuguria-Atolls, an dem zweimal nur im Jahr ein Schiff anlegt, um die Kopra, das getrocknete Kernfleisch der Kokosnüsse, abzuholen, aus dem das Kokosöl gewonnen wird.

Nach dem Abstecher auf das Atoll hielt Schlenker mit dem Stuttgarter Linden-Museum im Grasland Kameruns Kunst, Kult, Medizin und Magie des Geheimbunds der Tikar fest. Den Ova Himba, dem mit den Herero verwandten Hirtenvolk im Nordwesten Namibias, „auch vom weißen Mann zum Untergang verdammt“, setzte er 1990 ein Denkmal. Nach Afrika lockte der Regenwald. Doch nirgendwo auf der Welt war Hermann Schlenker, der aufbrach, um heimzukehren, nur flüchtiger Gast.

So erklärt sich sein gewaltiges Lebenswerk, das ein Millionenpublikum fand: Bücher, Bildbände, Filme vor allem. Nahezu 400 Filme drehte er für das Göttinger Institut für Medien in der Wissenschaft, für die International Film Foundation in New York, für die BBC in London, das ZDF in Mainz, den WDR in Köln, den SWF in Baden-Baden. Sie alle zeigen fremde Völker, wie sie zuvor nie gezeigt wurden. „Klüger ist die Welt durch meine Arbeit geworden, besser leider nicht“, zieht Schlenker Bilanz. Und so ist er „nur bedingt glücklich“. Unbedingt glücklich ist er indes mit seiner Frau Anny, die alle Strapazen auf sich nahm und lange Zeit die Tonaufnahmen beisteuerte.

Hermann Schlenker sagt, dass er selbst am äußersten Rand des Erdkreises keine Insel der Seligen entdeckt habe. Vielleicht findet er sie jetzt, mit 80 Jahren, daheim auf dem Griesget-Hof.