Seit drei Jahren ist Wolodymyr Selenskyj ukrainischer Präsident. Seit drei Monaten ist er ein weltweit bewunderter Freiheitsheld im Krieg gegen Russland.

Der erste Schlag richtet sich gegen das Haupt der Nation. In der Nacht auf den 24. Februar landen russische Fallschirmjäger in Kiew. Sie sollen Präsident Wolodymyr Selenskyj gefangen nehmen oder töten. Das ist Wladimir Putins Auftrag. Der Kremlchef will einen Regimewechsel in Kiew erzwingen und so die gesamte Ukraine seiner Macht unterwerfen. Die parallel anlaufende Invasion sichert den „Enthauptungsschlag“ ab.

 

Der politische Kopf des Landes soll fallen, damit das kopflose Land kapituliert. Und was tut Selenskyj? In seiner Erinnerung klaffen Lücken. „Mit meiner Frau Olena bin ich zu unseren Kindern gegangen, um sie zu wecken“, erzählt er später. Der neunjährige Kyrylo und die 17-jährige Oleksandra sollen sich zur Flucht bereit machen. Aber sonst? Sind da nur ein paar Sinneseindrücke: „Es war dunkel und laut.“

Zweimal versucht die russische Einheit, den Präsidentenpalast zu stürmen. Doch der Enthauptungsschlag verfehlt sein Ziel. Seitdem überzieht Russland die Ukraine mit Krieg. Aus all dem Grauen aber ragt Selenskyj wie eine Lichtgestalt empor. Weil er an jenem 24. Februar in Kiew bleibt, statt zu fliehen. „Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit“, antwortet Selenskyj, als der US-Geheimdienst ihn außer Landes bringen will. Das wirft die Frage auf: Hätte die Ukraine schnell kapituliert, wenn der Kopf gefallen wäre?

Der Präsident wäre zum Märtyrer geworden

Jede Antwort ist Spekulation. Im Land selbst sind sich aber fast alle einig, dass sie erst recht gekämpft hätten. Für ihren Präsidenten, der dann zum Märtyrer geworden wäre. Stattdessen wird er zum unbestrittenen Anführer, mit aktuell mehr als 90 Prozent Zustimmung.

Doch nicht nur die Menschen in der Ukraine verehren ihren Freiheitshelden. Seit Wochen pilgern Parlamentarier, Präsidentinnen und Premiers nach Kiew, um Selenskyj ihre Aufwartung zu machen. Die Bilder sprechen für sich. Selenskyj beim „Spaziergang“ mit dem Briten Boris Johnson auf dem Maidan in Kiew. Oder Selenskyj neben US-Verteidigungsminister Lloyd Austin. Der ukrainische Präsident ist ein Kraftpaket, aber nur 1,70 Meter groß. Austin überragt ihn um einen Kopf. Das mächtige US-Militär steht euch zur Seite, lautet die Botschaft.

Drei Monate, die alles überstrahlen – oder überschatten

Drei Monate Weltgeschichte. Drei Monate, die im 44-jährigen Leben des Wolodymyr Selenskyj alles andere überstrahlen. Oder überschatten, je nach Perspektive. Denn es gehen in diesen zwölf Wochen ja auch die Bilder aus Butscha um die Welt und die Drohnenfilme aus dem apokalyptisch zerbombten Mariupol. In jedem Fall aber scheint das Davor einer anderen Zeit anzugehören als das Danach.

Doch wird es Selenskyj gerecht, sein Leben auf drei Monate zu reduzieren? Selbstverständlich nicht. Und vor allem wird man so der Ukraine nicht gerecht. Klar ist: Der 24. Februar 2022 wäre als historische Chiffre ohne den 20. Mai 2019 nicht denkbar. An jenem Montag in Kiew tritt Selenskyj in der Obersten Rada ans Pult, um im Parlament seinen Amtseid abzulegen. „Wir haben den Weg nach Europa gewählt“, sagt er in seiner Antrittsrede. Ein Bekenntnis, das damals kaum jemand ernst nimmt.

Anfangs nimmt niemand den Schauspieler ernst

Denn Selenskyj spricht mit der sonoren Stimme des erfolgreichen Schauspielers. Vom „Komiker in Kiew“ schreiben Kommentatoren im Westen. Im Kreml fällt das Wort vom „Politclown“. Dabei hat Selenskyj kurz zuvor einen historischen Wahlsieg eingefahren. Mit 73 Prozent der Stimmen schlägt er Amtsinhaber Petro Poroschenko vernichtend. Aber soll man das ernst nehmen?

Schließlich ist Selenskyj vor allem aus einer TV-Serie bekannt. Dort spielt er einen Lehrer, der wütend auf „die Politik“ ist. Er hält eine Brandrede, die zum Internethit wird – und plötzlich wollen alle den Lehrer als Präsidenten. Aus der Filmidee macht Selenskyj Wirklichkeit. Das muss Realsatire sein. So sehen es die meisten Beobachter.

Die Weltgemeinschaft täuscht sich in der Ukraine

Doch sie irren auf ganzer Linie. In Moskau genauso wie in Berlin und Paris, in Brüssel und Washington. So wie sie sich allesamt in der Ukraine täuschen. Das Land sei gespalten, korrupt und nicht reformierbar. So heißt es. Selenskyj sieht das anders. Der Comedian im Präsidentenamt meint es bitterernst, als er in seiner Antrittsrede die Einheit der Nation beschwört: „Es gibt keine wahren und falschen Ukrainer.“ Die Unterscheidung zwischen EU-Fans im Westen und Russlandfreunden im Osten sei Unfug. Die gesamte Ukraine habe sich für Europa entschieden.

„Das ist unser gemeinsamer Traum“, sagt er und fügt hinzu: „Aber wir teilen auch einen gemeinsamen Schmerz. Jeden Tag sterben Menschen im Donbass.“ Damals trägt Wolodymyr Selenskyj noch Anzug und Krawatte statt olivgrüner Militärhemden. Er will auch kein Kriegspräsident sein, sondern das Gegenteil. „Wenn im Donbass ein Mensch stirbt, stirbt immer auch ein Stück von uns allen“, sagt er. Einer für alle, alle für einen. Das ist von Anfang an Selenskyjs Devise.

Mehr als 12 000 Menschen sind in der Ostukraine bereits gestorben, seit Russland 2014 die Krim annektiert und einen separatistischen Krieg im Donbass entfesselt hat. Um das Töten zu stoppen, sei er bereit, jeden Preis zu zahlen, erklärt Selenskyj. Im Rückblick kann es keinen Zweifel geben, dass Selenskyj am 20. Mai 2019 alles genau so meint, wie er es sagt. Er will die Ukraine endgültig vereinen, modernisieren und in die EU führen. Er möchte aber auch Frieden mit Russland schließen.

Putin lässt den ukrainischen Präsidenten abblitzen

Das jedoch will Putin nicht. Der Kremlchef lässt den ukrainischen Präsidenten beim Gipfel in Paris im Dezember 2019 abblitzen. Der französische Staatschef Emmanuel Macron und Kanzlerin Angela Merkel als Vermittler reden Selenskyj gut zu. Er habe sich doch ordentlich verkauft. „Mehr war nicht drin“, sagt Macron von oben herab. Also ist gar nichts drin, folgert Selenskyj. Nach dem Treffen in Paris steuert er um.

Er setzt auf US-Hilfe und vor allem auf eigene Stärke. Wie sehr die Ukraine unter der Führung ihres jungen Präsidenten als Nation zusammenwächst, begreift die Welt erst nach dem russischen Überfall am 24. Februar. Doch woher nimmt Wolodymyr Selenskyj seine einigende Kraft? In der Biografie sucht man vergeblich nach Schlüsselmomenten. Da ist das Judentum seiner Eltern, dem aber erst im Nachhinein eine Bedeutung zuwächst, als der russische Präsident Wladimir Putin den Überfall auf die Ukraine mit dem absurden Schlagwort der „Entnazifizierung“ begründet. Spiritualität jedenfalls ist nicht die Sache der Selenskyjs.

Die Mutter ist Ingenieurin, der Vater Kybernetik-Professor

Seine Mutter Rimma ist Ingenieurin, sein Vater Oleksandr Professor für Kybernetik. Dem jungen Wolodja ist das alles zu trocken. Als Schüler im südukrainischen Krywyj Rih ist er Klassenclown, tritt aber bald auch als Kabarettist auf. Das Jurastudium läuft später nebenher. Im Alter von 25 Jahren heiratet er seine Jugendliebe Olena. Viel normaler geht es nicht in der Ukraine. Was also ist das Geheimnis dieses Schulterschlusses zwischen einem Volk und seinem Präsidenten?

Viel spricht dafür, dass das Grundgefühl der Einheit im Land zuerst da war. Selenskyj hat diese Gemeinschaft wohl eher erspürt als analysiert. Bei seinem Amtsantritt formuliert er tastend: „Was ist, wenn dies tatsächlich unsere nationale Idee ist, uns zu vereinen, das Unmögliche möglich zu machen?“ Dann, ja dann wird das Unmögliche vielleicht möglich.