Jo Frühwirth war ein renommierter Journalist im SWR-Fernsehen. Seit fünf Jahren moderiert er in einem eigenen Seminarhaus mitten im Schwäbisch-Fränkischen Wald. Sein Publikum ist kleiner geworden, aber Frühwirths Interesse am Menschen größer denn je.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Großhöchberg - Es ist ein verflixter Montag, Mitte Januar. Erst sagen Jo Frühwirth sechs der elf Teilnehmer seines Blauen Salons ab, weil sie sich bei dem winterlichen Wetter vor der Fahrt in das abgelegene 100-Seelen-Nest Großhöchberg fürchten. Und dann, eine Stunde, bevor die Rederunde beginnen soll, findet er sein Handy nicht mehr. Also wählt er, wie man das in einem solchen Fall macht, per Festnetz seine eigene Mobilnummer – doch das verdammte Ding ist nicht zu hören. Frühwirth ist der Verzweiflung nahe, als eine Verkäuferin vom Supermarkt in Sulzbach anruft: Er habe sein Handy an der Kasse liegen lassen. Der 68-Jährige steigt in seinen Kleinwagen, braust durch den verschneiten Wald in den übernächsten Ort und kehrt abgehetzt zurück. Jetzt heißt es erst mal: rein ins Warme und runterkommen.

 

Jo Frühwirth tauscht, dem geölten Eichenholzdielenboden zuliebe, die Stiefel gegen Pantoffeln. Es geht hinauf in die Küche, wo er Wasser für den Kräutertee, griechische Mischung, aufsetzt und nebenher von seiner Kindheit in Reichenbach an der Fils erzählt: Seine Eltern waren Flüchtlinge aus Donauschwaben, den Vater hatten die Kriegsgräuel schier sprachlos gemacht, die Mutter litt unter der Vertreibung aus der Heimat. Beim Bau des Eigenheims musste Jo täglich mit anpacken, auch wenn er mit Gymnasium und Fußballverein eigentlich ausgelastet war. „Solche Erfahrungen prägen eine Persönlichkeit“, sagt Frühwirth heute. Womit wir bei seinem Lieblingsthema wären: Warum sind Menschen so, wie sie sind?

Mehr als dreieinhalb Jahrzehnte lang war Jo Frühwirth Fernsehjournalist beim SDR und SWR, leitete und moderierte Sendungen zu Lebensthemen – von A wie Autismus bis Z wie Zölibat. Er war kein Mann, der für sagenhafte Quoten stand, sondern für hervorragende Qualität. Vor vier Jahren, kurz bevor er in Rente ging, wurde er für einen Film über Wachkomapatienten mit dem Medienpreis der Caritas ausgezeichnet. In der Laudatio hieß es: „Frühwirth hat wieder unter Beweis gestellt, dass er in seinem Genre einer der Besten ist.“

„Abenteuer Biografie“

Allmählich treffen die Gäste des Blauen Salons ein, an den Füßen tragen sie Gästepantoffeln. Frühwirth begrüßt Elke, eine Körpertherapeutin aus Weinsberg, mit einer engen Umarmung. Rainer, ein Arbeiter aus Murrhardt, ist eher der Typ Handschüttler. Er hat bereits fünf Seminare unter dem Titel „Abenteuer Biografie“ bei Frühwirth belegt, zuletzt wurde die Beziehung zu seinem verstorbenen Vater näher beleuchtet. Irene und Tim kommen die Treppe hoch: sie Sozialpädagogin, Mutter zweier Söhne und hochschwanger, er professioneller Gaukler und Vater dreier Töchter. Die beiden Elternteile repräsentieren ein alternatives Milieu, das sich in den vergangenen Jahren im idyllischen Großhöchberg angesiedelt hat und Frühwirths Stammkundschaft bildet. Mit Verspätung erscheint schließlich Ursula, eine ältere Dame. Sie hat sich die rutschige Anreise von Sulzbach aus zugetraut und passt mit ihrer schrillen Ina-Müller-Art so gar nicht in das Bild, dass man gemeinhin von einer schwäbischen Kleinstadtrentnerin hat.

Frühwirth bittet die Gäste in den Seminarraum, wo auf blau gedeckten Campingtischen Getreidegebäck und Erdnüsse zum Knabbern bereitstehen. Noch schnell die Kerzen anzünden, dann kann der offizielle Teil des Abends beginnen. Die Überschrift des heutigen Blauen Salons lautet: „Ich sagen ist kein Egoismus.“ Zum Einstieg in das Thema schlägt der Gesprächsleiter eine Übung vor: „Wir stehen abwechselnd auf, formulieren einen Satz zu etwas, das uns am Herzen liegt, und beenden unser kurzes Statement mit den fünf Worten: ,Und das ist mir wichtig!‘“

Irene möchte, dass es ihrer Familie gutgeht, Tim wohnt gerne in Großhöchberg, Elke genießt ihre Omarolle, Rainer ist zufrieden mit seiner Arbeit, und Ursula jobbt neben der Rente als Sicherheitskraft bei VfB-Heimspielen. Wie war das, vor Fremden über sich selbst zu sprechen? „Hört in euch rein“, sagt Frühwirth. „Wie wirkt es auf euch? Was ist in euch passiert?“

„Der Mensch wird am Du zum Ich“

Unterschiedliches. Rainer berichtet, dass es ihm sehr schwer falle, das Wörtchen „ich“ auszusprechen: „Mir liegt es nicht, mich in den Vordergrund zu stellen.“ Ursula hat hingegen in ihrer Ehe gelernt, die eigenen Bedürfnisse unüberhörbar zu artikulieren. Ihr Mann sei ein „doppelter Skorpion“ und diese Kombination aus dem Sternzeichen und Aszendenten hochexplosiv – „da muss man sich wehren können“.

Wenn seine Gäste vom Thema abzukommen drohen, hilft Frühwirth die journalistische Erfahrung. Gute Moderatoren verfügen über einen rhetorischen Fundus, mit dem sie das Gespräch in die gewünschte Richtung lenken können. „Der Mensch wird am Du zum Ich“, zitiert Frühwirth den Theologen Martin Buber, obwohl (oder weil?) dessen Religionsphilosophie nichts mit Ursulas astrologischen Beziehungstheorien gemein hat. Für Buber prägen nicht die Sterne den Menschen, sondern sein menschliches Gegenüber, das Du.

Womit Frühwirth an jenem Punkt ist, um den seine Seminare stets kreisen: Bindungen, die ein Individuum eingeht – oder eben auch nicht. Kürzlich hat er ein Buch verfasst, es trägt den Titel „Dem Glück ein Stück entgegen gehen“ und zeigt laut dem Klappentext „Wege, wieder in Beziehung zu kommen“. Denn ohne Bindungen, heißt es weiter, „ist der Mensch ein Niemand“.

Jo Frühwirth war lange Jahre fest an Frauen gebunden. Aus der ersten Ehe mit einer Tangotänzerin hat er einen Sohn, aus der zweiten mit einer Fernsehkollegin eine Tochter. Nach der Scheidung vor zehn Jahren fiel er in ein tiefes Loch: „Mein Lebenstraum war geplatzt.“ Es ist kein Zufall, dass er seinerzeit eine Ausbildung als Festhaltetherapeut machte und sich später zudem mit dem System der Familienaufstellung befasste. Beide Methoden beruhen auf der Annahme, dass man sich mit seinen negativen Gefühlen auseinandersetzen muss. Alte Schmerzen anschauen. Frühwirths Motivation: „Ich wollte herausfinden, welchen Anteil ich daran hatte, dass meine Ehe gescheitert ist.“

2002 landete Frühwirth auf dem Abstellgleis

Männer, die in der leistungsorientierten Nachkriegszeit aufgewachsen sind, gelten üblicherweise nicht als ambitionierte Erforscher der eigenen Seele. Was lief bei Frühwirth anders? „Meine journalistische Arbeit war für mich wie ein Psychologiestudium“, antwortet er und nennt Gäste, die er einst in seine Sendung „Thema M“ eingeladen hat: den Hirnforscher Gerald Hüter, den Psychoanalytiker Michael Lukas Möller oder die Psychologin Jirinan Prekob. Wissenschaftler, die nicht nur den Moderator Frühwirth, sondern auch bis zu einer halben Million Fernsehzuschauer mit ihren Thesen fesselten. „Thema M“ war eine feste Marke im Dritten Programm.

2002 wurde der ernsthafte Journalist Frühwirth dennoch der Unterhaltung geopfert, seine monatliche Sendung eingestellt, damit Wieland Backes fortan jeden Freitagabend im „Nachtcafé“ locker talken konnte. Frühwirth landete auf einem Abstellgleis – in der Redaktion „Kirche und Gesellschaft“.

Wie schnell die Zeit vergeht: Als Frühwirth 1977 als 30-Jähriger zur „Abendschau“ kam, trieb die RAF ihr Unwesen, und der Jungreporter sah mit seinen langen Haaren und seinem Walrossschnauzbart selbst wie ein Bombenleger aus. Als er seine eigene Sendung bekam, trat er seriöser mit Stoppelfrisur und Schlips vor die Kamera. Und plötzlich war die große Karriere vorbei, und die Rente rückte näher.

Jo Frühwirth hatte vorgebaut, um sich nach seinem Abschied vom SWR nicht einsam und nutzlos zu fühlen. „Ich war unbeabsichtigt zum Einzelgänger geworden“, erzählt er. „Deswegen wollte ich einen Ort schaffen, der die Menschen anzieht.“ 2007 steckte er seine Ersparnisse in eine alte Immobilie. Fünf Jahre renovierte er das Fachwerkgebäude in Großhöchberg im Rems-Murr-Kreis und baute die dahinter liegende Scheune zu einem Seminarhaus um.

„Ich bin kein Guru“

Seit fünf Jahren bietet er nun sein, wie er es nennt, „Autonomietraining“ an. „Ich bin kein Guru“, sagt er. „Aber ich kann mit meinen Klienten auf Verletzungen, Kränkungen, eingemauerte Gefühle und Abhängigkeiten schauen.“ Und wie sieht es mit seinen eigenen Wunden aus, schmerzen sie noch immer? Frühwirth lächelt über die Frage, schweigt einige Sekunden und antwortet schließlich: „Jeder, der sich intensiv mit psychotherapeutischen Methoden beschäftigt, tut das auch, weil er in sich selbst nach etwas sucht.“

Zurück zu dem verflixten Montag, an dem manches schieflief. Jetzt ist es zehn, und Frühwirth hat sich zweieinhalb Stunden lang über das Thema „Ich sagen und Egoismus“ ausgetauscht. Der Gastgeber schlägt vor, eine Flasche Wein zu öffnen und zum gemütlichen Teil des Abends überzugehen. Zuvor kündigt er das Thema seines nächsten Blauen Salons an: „Was ist der Sinn von Lebenskrisen?“ Jo Frühwirth hat für sich die Antwort gefunden.