Der Promenadologe Bertram Weißhaar sieht Landschaften und Städte anders als seine Mitmenschen.

Stuttgart - Spazieren gehen – das ist ein Ritual, das für viele zum Sonntag gehört wie der Rinderbraten oder Besuche bei Oma. Mit dem Hund ins Freie, frische Luft schnappen, den Kopf freibekommen. Doch spazieren gehen, so Bertram Weißhaar, ist nicht spazieren gehen. Weißhaar muss es wissen. Er ist Promenadologe, auf Deutsch: Spaziergangsforscher. Das klingt sehr deutsch und ein bisschen auch nach Loriot. Denn laufen kann jeder. Wieso muss man daraus eine Wissenschaft machen?

 

Bertram Weißhaar, 54, lächelt müde, wenn man ihn das fragt. Er ist es gewohnt, dass Leute belustigt reagieren, wenn er sich vorstellt. Weißhaar ist Spaziergangsforscher, der einzige in Deutschland. Ein Feingeist mit festem Händedruck, drahtig, durchtrainiert. Wir haben uns am Hauptbahnhof Leipzig zum Spazierengehen verabredet. Weißhaar trägt ein Paar Wanderschuhe an den Füßen und einen Button auf dem Revers seines Mantels. „Spaziergänger frei“ steht darauf.

Die Fähigkeit zur Orientierung geht verloren

Er sagt, in einer Zeit, da man mit Auto, ICE oder Flugzeug schnell von A nach B gelangen könne, sei den Menschen die Fähigkeit verloren gegangen, sich ohne Navigator zu orientieren und genau hinzuschauen. Die Art der Fortbewegung bestimme aber den Blickwinkel. Deshalb organisiert er regelmäßig Stadtspaziergänge. Er wolle die Menschen ermutigen, die Umgebung vor ihrer eigenen Haustür neu zu entdecken, sagt er, sie mit allen Sinnen erfassen, entschleunigen. Sein Vokabular ist das eines Yogalehrers oder „Landlust“-Lesers.

Weißhaars Stadtspaziergänge sind aber kein reiner Selbstzweck. Seine Auftraggeber sind zum Beispiel Stadtplanungsämter. Bevor sie neue Wohngebiete erschließen, schicken sie den Promenadologen los. Weißhaar war Industriefotograf, bevor er in Kassel Stadt- und Umweltplanung bei dem Begründer der Spaziergangsforschung Lucius Burckhardt (siehe Infokasten) studiert hat. Er sieht Dinge, die andere nicht sehen. Er will seinen Mitmenschen die Augen für die Schönheit von Landschaften und Städten öffnen.

Musterbeispiel für gelungene Stadtplanung

Wir flanieren über die Bahnhofspromenade. „Ein Musterbeispiel für gelungene Stadtplanung“, sagt Weißhaar in diesem Singsang seiner baden-württembergischen Heimat. „Man steigt aus dem Zug und hat das Gefühl, schon mitten in der Stadt zu sein. Es ist alles schön sortiert und aufgeräumt.“ Draußen, in Leipzig, sieht das ganz anders aus. Eine S-Bahn biegt gerade quietschend um die Kurve. „Der Natur auf der Spur“, steht auf einer Banderole. Doch die ist fast vollständig aus der Innenstadt verschwunden. Früher trennte eine breite Promenade den Bahnhof von der Altstadt. Heute füllen drei Gleistrassen für die S-Bahn und neun Fahrspuren für die Autos diesen Raum aus. Der Mast einer mächtigen Schilderbrücke ragt aus dem engen Bürgersteig, den sich Fußgänger und Radfahrer teilen müssen.

Weißhaar ist in einem Dorf bei Villingen-Schwennigen aufgewachsen. Als passionierter Radfahrer engagierte er sich für mehr Radwege – so kam er zur Stadt- und Umweltplanung. 2002 zog es ihn nach Leipzig. Er sagt, die Stadt habe damals noch so ausgesehen wie Berlin nach der Wende: viele Brachen, Lücken, leer stehende Wohnungen. Ein Paradies für Stadtplaner. Geld vom Bundesbauministerium gab es auch, um alternative Wege der Stadtplanung auszuprobieren.

Spaziergänge als Planungsinstrument

Die Spaziergänge mit Bertram Weißhaar waren ein Instrument. „Nice to have“, sagt Stadtplanerin Christina Kahl, aber kein Muss. Ohne Fördermittel hätte sich die Stadt das nicht leisten können. Dabei seien die Spaziergänge bei den Leipzigern gut angekommen. Bertram Weißhaar nahm sie an die Hand. Er organisierte Picknicks an Orten, die sie noch gar nicht kannten. Er brachte sie mit Planern und Bauherren zusammen.

Doch jetzt ist das Projekt ausgelaufen. Leipzig braucht keine Werbung mehr. Riesige Kräne ragen in den wolkenlosen Himmel. Leipzig boomt. Es ist die am stärksten wachsende Stadt im Osten der Republik. Seit 2010 sind jedes Jahr 10 000 bis 15 000 Menschen zugezogen. Heute zählt Leipzig 580 000 Einwohner. „Die letzten freien Grundstücke gehen auch so weg.“ Weißhaar sagt es mit Bedauern.

Wir sind Richtung Norden gegangen. Er schwingt sich elegant über ein verrostetes Geländer und klettert eine Treppe hinunter. Sie führt zur Parthe, einem Rinnsal, einbetoniert zwischen Ufern. Früher leiteten Gerbereien ihre Abwässer ungefiltert in das Flüsschen. Heute bemüht sich ein kommunaler Zweckverband darum, das Gewässer zu renaturieren und Uferwege für Anwohner zugänglich zu machen. Ein Fall für Bertram Weißhaar. Als die Stadt verkündete, sie wolle hier eine vierspurige Straße bauen, trat er in Aktion. Mit Künstlern organisierte er ein Fest am Ufer. Glaubt man Weißhaar, war die Aktion ein voller Erfolg: „Von der Straße war nie wieder die Rede.“

Stadspaziergänge für Touristen

Inzwischen entwirft er seine Stadtspaziergänge auch für Reiseveranstalter, bei Bedarf als „Walk-Talks“, als Touren mit Audio-Guide. Sein größtes Projekt aber ist der „Denkweg“. Im Sommer 2015 ist er zu Fuß von Aachen bis nach Zittau gegangen und hat ein Buch darüber geschrieben. 1200 Kilometer in neun Wochen. Ein Querschnitt durch die deutsche Landschaft, von Köln bis zum Monte Kali, dem höchsten Salzberg Deutschlands.

Jetzt ist er dabei, sich mit Biobauern und Gastronomen entlang der Route zu vernetzen. Eine Alternative zum Jacobsweg, das ist sein Traum. Aber wer soll den gehen? Der Spaziergangsforscher grinst: „Jedes Jahr pilgern 40 000 Deutsche nach Santiago de Compostela, vierzig Prozent aus religiösen Gründen. Den Rest will ich abholen mit besseren Angeboten.“ Er meint Spaziergänger, die sich und das Land neu entdecken wollen. Einen Gott brauchen sie nicht. Der Weg ist das Ziel.

Spaziergänge als Forschungsgebiet

Professur
Es gibt keinen regulären Lehrstuhl für das Fach Spaziergang, nur eine Stiftungsprofessur. An der Kunsthochschule in Kassel verbreitet Martin Schmitz, 60, die Lehre jenes Mannes, der den Begriff der Spaziergangsforschung geprägt hat: Lucius Burckhard (1925–2003).

Begründer
Der Schweizer Soziologe und Ökonom Burckhard kämpfte gegen die Zersiedelung von Städten durch mehrspurige Straßen. Dabei ging es ihm darum, die künstlerischen Vorstellungen von Architekten mit den Bedürfnissen der Bewohner in Einklang zu bringen.

Forschung
Mit der Spaziergangsforschung hat Burckhard in den 1960er Jahren eine eigene Disziplin etabliert, zwischen Architektur und Stadt- und Umweltplanung. Inzwischen hat sich der Fokus verschoben: weg von der Architekturkritik und hin zum Versuch, Bürger zu beteiligen.