In der Region Stuttgart leben Menschen aus allen Ländern, deren Mannschaften zur Fußball-EM in der Landeshauptstadt spielen. In unserer Serie erzählen sie über sich und ihre EM-Wünsche. Heute: Mykola Koryshkin (35) aus der Ukraine.

Baden-Württemberg: Florian Dürr (fid)

Die Fußball-Europameisterschaft wird auch im Schützengraben an der Front verfolgt, da ist sich Mykola Koryshkin sicher. Der Ukrainer denkt oft an die Soldaten, die seine Heimat gegen den russischen Aggressor verteidigen. Fußball, sagt der 35-Jährige, sei wie „frische Luft“ für ihn und seine Landsleute. Frische Luft zum Durchatmen von tödlichen Kämpfen an der Front. Fußball auf den Handybildschirmen als Ablenkung von den grausamen Bildern, die der Krieg in die Köpfe vieler Ukrainerinnen und Ukrainer gebrannt hat.

 

Viel zu teuer seien die Stadiontickets, wenn die Ukraine in Stuttgart spielt

„Da gibt es gutes Internet“, weiß Koryshkin von Freunden und Bekannten, „besser als in Deutschland“, ergänzt er und kann sich ein hämisches Lachen nicht verkneifen. Starlink mache es möglich – das System von Elon Musks Unternehmen SpaceX sorgt mit verlässlicher Internetverbindung dafür, dass auch für die ukrainischen Soldaten an der Front eine Art Public Viewing möglich sei.

Koryshkin wird die Spiele der ukrainischen Nationalmannschaft vermutlich in der Fanzone in der Stuttgarter Innenstadt verfolgen – zusammen mit anderen Ukrainerinnen und Ukrainern, die vor dem russischen Angriffskrieg nach Deutschland geflohen sind. Viel zu teuer seien die Stadiontickets, wenn die Ukraine am 26. Juni in der Stuttgarter Arena auf Belgien trifft.

Der Ukrainer hat seine Mutter seit zwei Jahren nicht gesehen

2012, bei der Fußball-EM in der Ukraine und in Polen, sei das anders gewesen: Zehn Euro habe er damals für eine Karte bezahlt, erzählt der 35-Jährige und zeigt stolz ein Foto, auf dem er vor dem Stadion zu sehen ist. Trotz der 0:1-Niederlage gegen England denkt er gerne an den Tag zurück. In Donezk fand die Partie statt – heute aufgrund des Krieges ein undenkbarer Spielort. Koryshkin hat dort Jura studiert. „Eine tolle Stadt, ich habe vier Jahre dort gewohnt, die Leute hatten alles“, sagt er.

Der Ukrainer ist in einer Stadt zwischen Donezk und Mariupol geboren, bis zum Angriff der Russen 2022 hat er in Mariupol gelebt. Ein Café für junge Leute hat er dort betrieben, mit guter Musik, wie er sagt. Doch er musste dieses Leben hinter sich lassen, genau wie seine Mutter und seine Oma, die immer noch zwischen den beiden Städten leben. „Ich habe sie seit zwei Jahren nicht gesehen“, sagt Koryshkin.

Koryshkin darf wegen künstlicher Hüftgelenke nicht als Soldat kämpfen

Seinen Großvater hat er durch einen Raketenangriff verloren. Die Fußballtrikots, eine ganze Sammlung, konnte er nicht mit nach Deutschland nehmen, „die sind dort, wo russische Soldaten einmarschiert sind, aber die Trikots warten auf mich“, sagt er. Denn eines Tages will der 35-Jährige wieder in seine Heimat zurückkehren. Das Heimweh plagt ihn.

Wann eine Rückkehr möglich sein wird, weiß niemand. Bis dahin sucht der Ukrainer Schutz in Deutschland, zusammen mit seiner Partnerin lebt er in Stuttgart. Von hier versucht er seine Freunde, die als Soldaten in der Ukraine im Einsatz sind, zu unterstützen: Koryshkin organisiert – auch in Zusammenarbeit mit der Organisation Stelp – Sammlungen für alles, was Soldaten und Zivilisten in der Ukraine benötigen. Weil er selbst wegen künstlicher Hüftgelenke nicht kämpfen darf, will er wenigstens auf diese Weise einen Beitrag leisten.

Koryshkins Partnerin braucht Tabletten wegen der traumatischen Erlebnisse

„Entschuldigung, dass ich so viel über den Krieg spreche“, sagt er im Verlauf des Gesprächs. Aber es ist nun mal das, was ihn am meisten beschäftigt. Bei vielen hierzulande, so ist sein Eindruck, gerät der Krieg in der Ukraine immer mehr in Vergessenheit. Selbst Ukrainer im Ausland würden anfangen, die Kämpfe in der Heimat zu verdrängen.

Auch seine Partnerin will, dass er mehr über andere Dinge spricht. Die traumatischen Erlebnisse in der Ukraine machen ihr zu schaffen. Um einigermaßen mit den Erinnerungen klar zu kommen, muss sie Tabletten nehmen. Wie es ihm selbst geht? Über diese Frage muss Koryshkin etwas verzweifelt lachen, „das ist schwierig zu sagen“, meint er, „die letzten zehn Jahre waren eine große Herausforderung für mich, meine Familie und meine Freunde, wir haben diese Zeit verloren.“

„Fußball hilft uns, sich an die guten Zeiten zu erinnern“

Denn nicht erst mit dem russischen Überfall 2022, sondern bereits im Jahr 2014 kommt es auf der ukrainischen Halbinsel Krim zur ersten russischen Invasion – der Beginn des Kriegs, der bis heute andauert.

„Fußball hilft uns, sich an die guten Zeiten zu erinnern“, sagt Koryshkin mit Blick auf die EM in Deutschland. Viele ukrainische Fußballbegeisterte werden ab Mitte Juni vor den Bildschirmen sitzen, wenn ihre Nationalmannschaft auf dem Rasen steht. Ob in der Fanzone wie Mykola Koryshkin – oder im Schützengraben an der Front.