Der Fotograf Bill Cunningham steht seit 33 jahren jeden Tag an einer Straßenkreuzung in New York - und fotografiert die Schönheit.

New York - An der Ecke 57. Straße und Fifth Avenue, da, wo der Manhattaner Fußgängerverkehr am hektischsten und dichtesten ist, steht ein schmaler kleiner Mann in einer blauen Handwerkerjacke. Er tippelt hin und her, schaut nach links, schaut nach rechts, stellt sich auf die Zehenspitzen, um weiter die Fifth Avenue hinunterblicken zu können, so wie jemand, der ungeduldig auf ein Rendezvous wartet.

 

Doch Bill Cunningham wartet auf niemanden. Manchmal steht er stundenlang nur da und späht und lässt den Passantenstrom an sich vorbeiziehen. Dann zückt er plötzlich seine Kamera, springt selbstvergessen auf die Straße und belästigt sein Objekt mit unbarmherziger Beharrlichkeit.

Was er genau sucht, das kann Bill Cunningham vorher nie sagen, das weiß er erst, wenn er es gefunden hat. "Ich suche nach Schönheit", sagt er immer, wenn er danach gefragt wird, was er eigentlich macht. Die Schönheit kann auf den Straßen New Yorks jedoch die verschiedensten Formen annehmen.

Es kann die Art sein, wie eine Frau über eine Pfütze springt. Es kann ein Prêt-Õ-porter-Kostüm von Oscar de La Renta sein, das lässig von den Schultern hängt. Oder ein Hip-Hopper, dessen Jeans in den Kniekehlen hängt. Manchmal kann es sogar ein Müllsack sein, den eine Dame im Sturzregen über ihr Kostüm gestülpt hat.

Nur der, der überall hingeht, versteht die Mode

Bill Cunningham steht seit 33 Jahren beinahe jeden Tag an der Ecke 57. und Fifth. Seit 1978 fotografiert er für die "New York Times" Mode. Aber für Cunningham war Mode immer mehr als nur die Inszenierungen der Laufstege. Die fotografiert er zwar auch, aber er interessiert sich vor allem für die Mode der Straße. Er will nicht nur wissen, was sich ein Designer ausgedacht hat, er muss wissen, wie es getragen und kombiniert wird und wie es aussieht, wenn damit zur U-Bahn gehastet wird.

Cunningham glaubt fest daran, dass nur der die Mode wirklich versteht, der überall hingeht - zu den Laufstegen, zu Partys und vor allem auf die Straße. Und das tut Cunningham. Unermüdlich. Trotz seiner 83 Jahre. Tagsüber steht er an der Fifth oder fährt mit seinem klapprigen Fahrrad durch Manhattan, immer auf der Jagd "nach irgendeinem wundervollen Paradiesvogel", wie er sagt.

Abends zieht er sich seinen schwarzen Anzug an und besucht die großen gesellschaftlichen Ereignisse der Stadt, die Wohltätigkeitsbälle, die Theaterpremieren, die Vernissagen. Und im Sommer fliegt er zu den Modewochen nach Mailand und Paris, "um das Auge zu schulen".

Es ist eine Ehre, von Bill Cunningham fotografiert zu werden

Dort sitzt er dann am Rand der Laufstege mit seiner alten Kleinbildkamera, nicht am Ende, wo sich die Meute der Kollegen mit ihrem modernen Equipment und den langen Linsen versammeln. Er fotografiert die Models, wie die Frauen auf der Straße, im Vorbeigehen, damit er die Linien der Kleider sieht, damit er sieht, wie sie fallen und fließen.

Wenn ihm nichts gefällt, lässt er die Kamera liegen, es kommt vor, dass er während einer Schau nicht ein einziges Bild macht. Manchmal ist er jedoch auch der Einzige, der den Apparat ans Auge hebt. Und deshalb kann es die Modewelt gar nicht erwarten, die nächste "Times" mit dem Bilderbogen von Cunningham in die Finger zu bekommen. "Er hat ein untrügliches Gespür dafür, was funktioniert, was ein Trend werden könnte", sagt Harold Koda, der Direktor des Costume Institute am Metropolitan Museum.

Cunningham ist ein Kauz, ein Außenseiter selbst in der exaltierten Modewelt. Es kommt nicht selten vor, dass Türsteher dem alten Mann, der mit seiner Arbeiterjacke aussieht wie ein besserer Stadtstreicher, den Zugang zu den Modenschauen verweigern. Und doch verehrt man ihn in dieser Welt. "Für jeden, der weiß, wofür Bill steht, ist es eine Ehre, von ihm fotografiert zu werden", sagt Anna Wintour. "Schlimm ist nur, wenn er einen ignoriert. Das ist der Tod."

Bill Cunningham als unbekanntester Promi New Yorks

Doch darüber kann sich Wintour nicht beklagen. Cunningham fotografiert sie, seit sie 19 ist - während sie die Fifth Avenue auf und ab flaniert, auf Galas, Partys, Modeschauen. Es ist ein Kompliment an ihren Geschmack, und das weiß sie.

Cunningham gilt als der Mann mit dem untrüglichen Instinkt für Linie, Farbe, Schnitt und Kontur. Einen Instinkt, den er sich vor allem auf den Straßen New Yorks geholt hat. "Er hat das Leben dieser Stadt dokumentiert. Er hat aufgezeichnet, was uns als New Yorker ausmacht", sagt Harold Koda.

Bei all dem blieb Cunningham selbst jedoch immer anonym, er war der unbekannteste Prominente von New York. Wie ein Gespenst tauchte er mit seinem Rad auf, fotografierte und verschwand wieder. Selbst die Menschen, die eng mit ihm arbeiteten, hatten keine Ahnung, wo er lebte und was er trieb, wenn er nach Hause ging.

Ein erfolgreicher Fotograf ohne Privatleben

Richard Press, seinem Assistenten bei der "New York Times", ließ diese Frage keine Ruhe. Schon bald, nachdem er angefangen hatte, Cunninghams Filmrollen ins Labor zu bringen und mit ihm die Bilder für die Zeitung auswählte, nahm er sich vor, einen Film über diesen besonderen Mann zu drehen.

Es dauerte sieben Jahre, bis Cunningham Press an sich heranließ, und selbst dann gab er Privates nur millimeterweise preis. "Er war immer kurz davor, das Projekt abzubrechen und uns zum Teufel zu jagen", erzählt Press bei einem Kaffee im Meatpacking District. "Der Film stand bis zum Schluss auf der Kippe."

Auf den ersten Blick war das, was Press entdeckte, enttäuschend. Cunningham hat kein Privatleben. Er lebt alleine in einer winzigen Künstlerwohnung. Das Bad ist auf dem Flur, eine Küche gibt es nicht, jeder Zentimeter ist mit Aktenschränken voll gestellt. Negative und Abzüge aus einem halben Jahrhundert. Seine Garderobe hängt auf Bügeln an den Griffen der Schränke, irgendwo ist eine kleine Matratze dazwischengequetscht.

Glücklich ohne Familie und Luxus

Cunningham ist nicht verheiratet, hat noch nie eine "romantische Beziehung" gehabt, wie er in einem beklemmenden Interview dem Filmemacher gesteht. Er geht nicht aus, kauft nicht ein, er braucht nur den blauen Arbeitskittel auf seinen Schultern, seine Kamera, sein Fahrrad und ab und zu ein Sandwich und einen Kaffee aus dem Schnellrestaurant nebenan. Und die Kirche, die er jeden Sonntag besucht, nachdem er sechs Tage lang an seiner Seite für die Wochenendausgabe gebastelt hat.

Das klingt zunächst nach einer traurigen, einsamen Existenz. Doch Press fand in dieser scheinbaren Tristesse einen ungeheuren Reichtum. Bill Cunningham, das spricht aus jeder Szene des faszinierenden Films, ist ein zutiefst glücklicher Mensch.

So erleben wir ihn auf einem Empfang des französischen Kultusministers. Er schlängelt sich wie immer durch die Menge, plaudert, knipst diesen und jenen. Erst spät erfahren wir, dass dieser Empfang ihm gilt, dass er für seine Verdienste um die Mode einen Orden verliehen bekommt.

Die Schönheit der Einfachheit

In seiner Dankesrede stottert Cunningham zuerst herum, springt abrupt zwischen Französisch und Englisch hin und her. Doch dann fällt ihm ein, was er wirklich sagen möchte, war er schon immer sagen wollte. "Derjenige, der Schönheit sucht, wird sie auch finden", sagt Cunningham und ihm laufen dabei die Tränen aus den Augenwinkeln.

In diesem Moment begreift man Cunningham, und es steigt einem unweigerlich selbst das Wasser in die Augen. Cunningham hat eine höhere Daseinsstufe erreicht als wir Normalsterblichen. Er hat sein Dasein in Dienst eines Ideals gestellt. Er ist ein Hohepriester der Schönheit, ein Hohepriester in einer Müllarbeiterjacke.

"Er ist frei", sagt Richard Press, und man spürt, wie gerne er auch so wäre wie Bill Cunningham. Tag für Tag auf der Suche nach Schönheit auf einem alten Fahrrad durch die Straßen Manhattans zu ziehen, so lange, bis die Sonne im Hudson versinkt, ohne Sorge um Geld, Status, Erfolg, Anerkennung, all die Dinge, mit denen andere sich täglich mühen. Was für ein Leben.