Recep Tayyip Erdogan verkündet nach seinem Wahlerfolg das „Jahrhundert der Türkei“. Von Europa und den USA wendet sich der Präsident ab, seinen politischen Gegnern gegenüber zeigt er sich unversöhnlich – und beschwört seine Macht auf Lebenszeit.

Mit einer osmanischen Regimentsfahne steht Cemal Basaran am Tag nach der Präsidentenwahl vor der Hagia Sophia. Den Jahrestag der Eroberung von Konstantinopel durch die Osmanen am 29. Mai 1453 feiere er, erklärt der 90-Jährige stolz, denn Sultan Mehmet der Eroberer sei der beste Herrscher aller Zeiten gewesen. Die Eroberung feierte beim Morgengebet in der einstigen byzantinischen Reichskirche am Montag auch Innenminister Süleyman Soylu, ein Hardliner in der Regierung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan: Es sei der „Morgen nach dem Sieg des Jahrhunderts“, schrieb Soylu auf Twitter zu Bildern der betenden Menge unter den Kuppeln der Hagia Sophia, die Erdogan vor drei Jahren vom Museum zur Moschee umgewandelt hatte.

 

Die Erinnerung an glanzvolle osmanische Zeichen gehört schon lange zum rhetorischen Handwerkszeug von Erdogan. Mit dem Sieg in der Stichwahl um das Präsidentenamt wird die Beschwörung der glorreichen Vergangenheit nun zur Beschreibung einer verheißungsvollen Zukunft. Die Wahl sei ein ebenso historischer Wendepunkt wie die Eroberung von Konstantinopel, sagte Erdogan in der Wahlnacht vor Zehntausenden Anhängern am Präsidentenpalast von Ankara. „So Gott will, ist die Wahl das Tor zum Jahrhundert der Türkei.“

Erdogan will Verfassungsänderung

Der Präsident regiert seit 20 Jahren und prägt die vor hundert Jahren gegründete Republik länger als jeder türkische Politiker vor ihm. Nach seinem Sieg vom Sonntag wird Erdogan bis 2028 im Präsidentenpalast bleiben können; er hat bereits eine Verfassungsänderung ins Gespräch gebracht, die ihm danach eine weitere Amtszeit ermöglichen würde. „Wir werden bis zum Grab zusammen sein“, rief er seinen Anhängern zu.

Erdogan siegte nach dem vorläufigen amtlichen Ergebnis mit 52,2 Prozent vor seinem Herausforderer Kemal Kilicdaroglu, der auf 47,8 Prozent kam. Die Wahlbeteiligung betrug 85,7 Prozent, nach 88,8 Prozent bei der ersten Wahlrunde am 14. Mai. Laut der amtlichen Nachrichtenagentur Anadolu stimmten türkische Wähler in Deutschland zu 67 Prozent für Erdogan; insgesamt sicherte sich Erdogan gut eine Million der 1,9 Millionen Wählerstimmen aus dem Ausland. Am Wahlausgang änderte dies aber nichts: Auch ohne eine einzige Stimme aus dem Ausland hätte Erdogan mit 1,2 Million Stimmen Vorsprung vor Kilicdaroglu gewonnen. Nach Einschätzung von Experten scheiterte Kilicdaroglu wegen der geringeren Wahlbeteiligung in der zweiten Runde und besonders wegen der Zurückhaltung kurdischer Wähler, die er nach dem ersten Wahlgang mit rechtsnationalistischen Parolen abgeschreckt hatte. Kritiker sagen zudem, der 74-Jährige sei der falsche Kandidat gewesen. Trotz seiner Niederlage will Kilicdaroglu nicht als Chef der Oppositionspartei CHP zurücktreten. Erdogan verspottete Kilicdaroglu als Versager und beschimpfte die Opposition als Terrorhelfer und Unterstützer von Homosexuellen, die es auf die Institution der türkischen Familie abgesehen hätten. Der Präsident betonte zwar, er wolle für alle 85 Millionen Türken da sein, doch die neuen Angriffe auf seine Gegner zeigten: Erdogan hat bereits die Kommunalwahl 2024 im Blick. Dann will er Istanbul und Ankara von der Opposition zurückerobern.

Unversöhnliche Siegesrede

Erdogans Siegesrede sei die unversöhnlichste gewesen, die er je gehalten habe, kommentierte Yildiray Ogur von der konservativen Oppositionszeitung „Karar“. „Das ist ein Vorgeschmack auf kommende Zeiten.“ Vor den Kommunalwahlen könnte Erdogans Justiz den Oppositionspolitiker und Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu mit einem Politikverbot belegen und die Kurdenpartei HDP verbieten. Schwere Zeiten kommen auf die Türkei auch wirtschaftlich zu. Manche Experten sagen angesichts der Inflation voraus, dass der Türkei bald das Geld ausgehen könnte. Die Bekämpfung der Inflation sei „keine schwierige Sache“, entgegnete Erdogan. Geld vom Internationalen Währungsfonds brauche die Türkei nicht. Vor der Wahl hatten Russland und reiche Golfstaaten der türkischen Regierung finanziell unter die Arme gegriffen.

Im „Jahrhundert der Türkei“ versteht sich Erdogans Türkei nicht mehr als Verbündeter des Westens, der dieselben Werte teilt, sondern als eigenständiger Akteur zwischen Ost und West. Der Präsident ist sicher, dass der Westen die Türkei mehr braucht als andersherum.

Doch das Land ist nach der Wahl tief gespalten. Auch Cemal Basaran mit seiner osmanische Regimentsfahne ist von Erdogans Kraftmeierei nicht begeistert. Sultan Mehmet der Eroberer habe eine gerechte Ordnung geschaffen, in der alle Untertanen gleich waren, niemandem etwas weggenommen wurde und alle Brüder waren, sagt der alte Mann. Das sei jetzt leider anders.