Seit 20 Jahren regiert Recep Tayyip Erdoğan die Türkei. Und es sieht so aus, als ob er die Stichwahl am Sonntag gewinnen könnte. Was das für Deutschland bedeuten würde, erklärt der Türkei-Experte Kristian Brakel.

Am Sonntag entscheidet sich, wer die Präsidentschaftswahl in der Türkei gewinnt – der bisherige Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan oder der Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu. Was auf die EU und Deutschland zukommt, wenn Erdoğan im Amt bleibt, erklärt der Türkei-Experte Kristian Brakel.

 

Herr Brakel, was bedeutet es für die deutsch-türkischen Beziehungen, wenn Erdoğan die Stichwahl am Sonntag gewinnt?

Das Verhältnis der Türkei und der Bundesregierung wird wohl die nächsten Jahre ähnlich bleiben, wie es jetzt aktuell ist: in einer Art Détente – was bedeuten soll: irgendwo zwischen Entspannung und Waffenruhe. Wobei beiden Seiten klar ist: Es gibt noch immer Probleme zwischen den Ländern und die sind noch nicht gelöst.

Welche genau?

Für die Türkei ist Deutschland ein Schlüssel zu Europa. Gerade wirtschaftlich profitiert die Türkei von der Beziehung. Das ist gerade nach der Wahl wichtig, weil man im Wahlkampf die Kassen für Wahlgeschenke geleert hat. Für Deutschland ist das auch eine strategische Frage. Da geht es um Migrationskontrolle, Sicherheit und die Zusammenarbeit bezüglich des Kriegs in der Ukraine. In diesen Punkten ist man auf die Gegenseite angewiesen. Das heißt: Es gibt Probleme – aber eben auch eine Abhängigkeit auf beiden Seiten. Solange Erdoğan an der Macht bleibt, wird sich daran wenig ändern.

Sie befürchten nicht, dass Erdoğan noch autoritärer werden könnte?

Ich glaube, der Staat wird relativ stabil autoritär bleiben – mehr oder weniger wie jetzt auch. Natürlich gibt es immer wieder kleine Spitzen: Es könnte Parteiverbote geben, vielleicht auch weitere Ermittlungen gegen Oppositionspolitiker. Aber das System ist momentan unter Kontrolle. Deshalb ist zu erwarten, dass es so weiter geht – es sei denn, der Machterhalt wird stark bedroht. Das bedeutet auch, dass ich nicht unbedingt glaube, was die Opposition behauptet: dass die Türkei in eine totale Diktatur abrutschen würde. Diese Sorge habe ich nicht. Trotzdem werden Demokratie und Menschenrechte stark eingeschränkt bleiben.

Welche Europa-Themen würden auf Erdoğan warten?

Prinzipiell läuft noch immer der Prozess, damit die Türkei EU-Mitglied werden kann. Aber der liegt aktuell auf Eis. Damit sich das ändert, müsste die Türkei einige Reformen umsetzen. Die sind angekündigt, werden in absehbarer Zeit aber höchstens in kosmetischer Form stattfinden. Die Zusammenarbeit mit Europa wird wohl eher auf technischer Ebene bleiben – zum Beispiel bei Fragen der Migration. Und da könnte es schwierig werden.

Inwiefern?

Die Türkei ist in Gesprächen mit dem syrischen Machthaber Baschar al-Assad. Die sind von dem Wunsch getrieben, syrische Geflüchtete loszuwerden. Assad sagt, dass er kein Interesse hat, diese Menschen wieder aufzunehmen. Der Krieg ist nicht vorbei, die Regierung ein Terrorregime, die Menschen wären in Leben und Freiheit bedroht. Und: Assad will, dass die Türkei alle Truppen aus Syrien abzieht. Das würde für die Türkei neue Sicherheitsbedrohungen bringen. Es wird keine schnelle Einigung geben. Der türkische Außenminister hat angekündigt, dass der Plan sei, bis zu einer Million Syrer im Norden Syriens anzusiedeln. Dass die Geflüchteten das freiwillig machen, ist unrealistisch. Das könnte die Beziehung zu Europa noch schwieriger machen.

Dabei hieß es, der „Flüchtlingspakt“ würde die Beziehungen stabilisieren…

In den vergangenen Jahren war das teilweise so, weil es zumindest etwas gab, an dem beide Seiten ein Interesse hatten. Aber falls diese Abschiebungen passieren, wäre das ein Problem für die EU. Der Flüchtlingsdeal beruht auf der Annahme, dass die syrischen Geflüchteten in der Türkei sicher sind. Wenn sie genötigt werden, das Land zu verlassen, stellt das den Deal infrage. Die Türkei wollte den Pakt immer neu verhandeln – und hat mehr Geld von der EU verlangt. Aber in der EU ist aktuell alle Aufmerksamkeit und Geld auf den Ukrainekrieg konzentriert. Daher ist unklar, was die EU machen würde, wenn es dazu kommt.

Zuletzt hat die Türkei den Nato-Beitritt von Schweden blockiert. Könnte sich hier etwas bewegen?

Das ist schwer zu sagen. Ich vermute, dass die Türkei dem Nato-Beitritt von Schweden früher oder später zustimmen wird. Bislang hat sich hier allerdings nur wenig bewegt. Man könnte darauf hoffen, dass der türkische Staat vielleicht Absprachen mit den USA getroffen hat und sich nach der Wahl etwas bewegen könnte – aber das wissen wir nicht. Ebenso gut ist es möglich, dass es sich die Türkei nicht mit Russland verscherzen will – und deshalb an dieser Art von Schaukelstuhl-Politik festhalten wird.

Zur Person

Kristian Brakel ist politischer Analyst und Islamwissenschaftler. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Türkei. Brakel ist Mitarbeiter der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung, zuletzt leitete er deren Büro in Istanbul. Er ist außerdem Gastwissenschaftler bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) im Zentrum für Ordnung und Governance in Osteuropa, Russland und Zentralasien. Zuvor arbeitete er unter anderem als Referent für politische Zusammenarbeit für das Auswärtige Amt in den Palästinensischen Gebieten.