Ein Wahlsieg der Opposition in der Türkei würde die Beziehungen zum Westen insgesamt wohl verbessern. Kritisch aber würden Fragen der Flüchtlingspolitik.

Der Westen sei gegen ihn, sagt Recep Tayyip Erdogan. Doch seine Nation werde Amerika und Europa bei der Wahl am Sonntag eine Lektion erteilen, sagte der 69-jährige Staatschef in einem Fernsehinterview. Tatsächlich machen einige westliche Politiker keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen Erdogan. US-Präsident Joe Biden vermeidet Treffen mit dem türkischen Staatschef, so gut er kann. Sollte Erdogan die Wahl verlieren, dürfte es in vielen westlichen Hauptstädten ein Aufatmen geben.

 

Erdogan hat sich in den vergangenen Jahren mit den wichtigsten Partnern im Westen überworfen. Die USA und die Nato schockte er mit dem Kauf eines russischen Flugabwehrsystems und seiner engen Freundschaft mit Kremlchef Wladimir Putin. Mit den EU-Mitgliedern Griechenland und Zypern stritt er sich um Gasvorräte im östlichen Mittelmeer. Seit einiger Zeit bemüht sich Erdogan um eine Reparatur der Beziehungen, weil er die Unterstützung des Westens bei der Überwindung der Wirtschaftskrise braucht.

Freilassung politischer Häftlinge

Doch eine dauerhafte Verbesserung des Verhältnisses ist bei einem Wahlsieg von Erdogan nicht zu erwarten. „Transaktional“ ist ein Begriff, den Experten häufig bei der Beschreibung ihrer Erwartungen für diesen Fall benutzen: Bei Themen von beiderseitigem Interesse gilt ein Geben und Nehmen, aber grundsätzliche Streitfragen bleiben ungelöst. Sollte sich Erdogan bei den Wahlen eine dritte Amtszeit sichern, könnten die Beziehungen zum Westen „noch turbulenter“ werden, meint Luigi Scazzieri von der Denkfabrik Zentrum für Europäische Reform.

Das wäre bei einem Sieg von Kemal Kilicdaroglu anders. Er verspricht die Rückkehr zu einer pro-westlichen Außenpolitik und eine Wiederbelebung des türkischen EU-Beitrittsprozesses. Der Oppositionskandidat hat politische Reformen zur Stärkung des Rechtsstaates in der Türkei angekündigt, die sich positiv auf das Verhältnis zu Europa auswirken würden. So will Kilicdaroglu die Anordnungen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes zur Freilassung des Bürgerrechtlers Osman Kavala und des Kurdenpolitikers Selahattin Demirtas umsetzen. Damit würde er einen Dauerstreit mit Europa beenden und das laufende Verfahren zum Ausschluss der Türkei aus dem Europarat stoppen.

Zudem will Kilicdaroglu die Meinungsfreiheit stärken: Kritik am Staatspräsidenten werde unter seiner Regierung erlaubt sein. Unter Erdogan hat die türkische Justiz hunderttausende Verfahren wegen Präsidentenbeleidigung eingeleitet. Ein freieres gesellschaftliches Klima in der Türkei wäre ebenfalls gut für die Beziehungen zur EU. Die Türkei-Expertin Ilke Toygür schrieb in einem Beitrag für die Universität Stockholm, Europa solle diese Politik nach der Wahl mit konkreten Vorschlägen beantworten, um den Reformprozess zu konsolidieren. Eine demokratische, berechenbare, pro-westliche Regierung in Ankara sei im Interesse der EU.

Anders als Erdogan würde Kilicdaroglu einem Nato-Beitritt von Schweden zustimmen. Zwar sagt der Kandidat, gute Beziehungen zu Russland seien im türkischen Interesse. Kürzlich warf er Moskau jedoch vor, mit der Verbreitung von Falschnachrichten in den türkischen Wahlkampf einzugreifen.

Abschaffung der Visumspflicht

Kilicdaroglu würde nicht alles anders machen als Erdogan. Beim Dauerstreit mit Griechenland und Zypern um die Grenzziehung in Ägäis und Mittelmeer dürfte sich die türkische Haltung nach einem Regierungswechsel nicht ändern. Kilicdaroglu kündigt zudem eine stärkere Hinwendung zu den zentralasiatischen Turkstaaten an; auch das liegt auf Erdogans Linie. Die Flüchtlingspolitik birgt ebenfalls Sprengstoff. „Türkei zuerst“ sei sein Motto, sagt Kilicdaroglu Sein Bündnis aus sechs Oppositionsparteien will das Flüchtlingsabkommen mit der EU aus dem Jahr 2016 auf den Prüfstand stellen. Der Vertrag verpflichtet die Türkei, Flüchtlinge auf dem Weg in die EU abzufangen. Nach einem Regierungswechsel werde die Türkei kein Aufenthaltsraum für Flüchtlinge mehr sein, verspricht die Oppositionsallianz.

Kilicdaroglu kündigte an, die Türkei werde nach seiner Amtsübernahme als Präsident alle Bedingungen der EU für eine Abschaffung der Visumspflicht für Türken in Europa erfüllen. Bisher scheiterte das an Erdogans Weigerung, die türkischen Terrorgesetze zu entschärfen, die aus Sicht der EU undemokratisch sind. Sollte Kilicdaroglu Wort halten, käme die Visums-Frage wieder auf die Tagesordnung – was vielen EU-Politikern angesichts der ausländerfeindlichen Stimmung in ihren Ländern nicht recht wäre.